Die Soldaten bewegten sich schnell.
Erik von Finstermoor, Herzog von Krondor, Marschall der Armee des Königs im Westen und Wächter der westlichen Grenzgebiete, stand hinter einem großen Felsvorsprung und sah zu, wie seine Männer in Position gingen. Diese Männer gehörten einer Eliteeinheit der Hausgarde des Prinzen an und bildeten nun lautlose Silhouetten vor Felsen, die tief im Schatten der untergehenden Sonne lagen. Erik hatte persönlich die Ausbildung dieser Einheit vorgenommen, als er in der Armee aufstieg, erst zum Hauptmann, dann zum Kommandanten der Garnison von Krondor und schließlich zum Marschall.
Die Männer hatten einmal zu den KöniglichKrondorschen Pfadfindern gehört, einer Kompanie von Fährtensuchern, Abkömmlinge der legendären Soldaten aus Kesh, aber nun nannte sich diese kleine Kompanie einfach »die Männer des Prinzen«. Es waren Soldaten, an die Erik sich unter besonderen Umständen wandte, und solchen fanden sie sich an diesem Abend zweifellos gegenüber. Ihre Uniformen waren leicht zu erkennen: dunkelgraue, kurze Waffenröcke mit dem Wappen von Krondor – einem Adler, der über einem Gipfel schwebte, ausgeführt in gedämpften Farben – und schwarze Hosen mit einem roten Streifen an der Seite, die in schweren Stiefeln steckten, geeignet zum Marschieren, Reiten oder für die Tätigkeit, die sie nun ausführten, das Erklettern von Felsen. Jeder Mann trug einen schlichten, dunklen Helm mit offenem Visier und kurze Waffen – ein Schwert, das kaum lang genug war, um diesen Namen zu verdienen, und einen Estoc, einen langen Dolch. Jeder Mann war zu besonderen Fähigkeiten ausgebildet, und derzeit führten die zwei besten Kletterer den Angriff an.
Erik ließ den Blick zum Gipfel der Klippe
gegenüber seiner Stellung schweifen.
Hoch über ihnen ragte die alte Burg Cavell auf und blickte hinab
auf einen Pfad, der vom Hauptweg abzweigte, einen Pfad, der als
Cavell-Pfad bekannt war. Ein kleiner Wasserfall rauschte in einen
Teich auf einem breiten Vorsprung, dann ging er in den Bach über,
der ursprünglich den Weg gebildet hatte. Wie so etwas mitunter
geschah, hatte sich das Bachbett im Lauf von Jahren verlagert, und
irgendein Ereignis, sei es natürlicher Art oder von Menschen
bewirkt, hatte das Bachbett auf die andere Seite des Hangs
gezwungen und das ursprüngliche Bett trocken und staubig
zurückgelassen. Der Teich war ihr Ziel, denn wenn die
Informationen, über die Erik aus einer Zeit beinahe hundert Jahre
zuvor verfügte, der Wahrheit entsprachen, gab es hinter diesem
Teich einen geheimen Eingang zur Burg, den ursprünglichen
Fluchtweg.
Erik hatte seine Soldaten vor dem Morgen in die Siedlung Cavell
gebracht und rasch so gut wie möglich versteckt, was in einem so
kleinen Ort nicht einfach war, aber gegen Mittag gingen die
Dorfleute wieder ihren Geschäften nach, und Bewaffnete versteckten
sich hinter jedem zweiten Gebäude. Erik machte sich keine Sorgen
wegen möglicher Spione der Nachtgreifer, denn niemandem war
gestattet, die Siedlung an diesem Tag zu verlassen; seine einzige
Sorge war, dass jemand sie von hoch oben in den Hügeln oberhalb der
Stadt beobachtete, aber er war überzeugt, dass er alle erdenklichen
Vorsichtsmaßnahmen ergriffen hatte.
Magnus hatte ihm mit einem Illusionszauber geholfen, und für jeden
potenziellen Beobachter, der kein gut ausgebildeter Benutzer von
Magie war, waren die paar Minuten, die es brauchte, um hundert Mann
in die Siedlung zu bringen, ereignislos vergangen. Bei
Sonnenuntergang hatte Magnus erneut seinen Zauber gewirkt, und die
Männer hatten sich rasch in zwei Gruppen aufgeteilt: Eine eilte den
Cavell-Pfad hinauf zum Haupteingang, und die andere bewegte sich
unter Eriks persönlicher Aufsicht zur Rückseite der Burg.
Der alte Soldat stand reglos da, seine Aufmerksamkeit auf die
Verteilung seiner Männer gerichtet. Er war beinahe fünfundachtzig
Jahre alt, aber dank eines Tranks, den Nakor ihm gegeben hatte,
erinnerte er eher an einen dreißig Jahre jüngeren Mann. Zufrieden,
dass alles so verlief, wie es sollte, wandte er sich seinen
Begleitern zu, Nakor und Magnus, die neben ihm standen, während
sich die persönliche Leibwache des Marschalls nervös im Hintergrund
hielt; es gefiel ihnen nicht so recht, dass ihr Befehlshaber sie
anwies, sich zurückzuhalten, da es ihr persönlicher Auftrag war,
ihn um jeden Preis zu schützen.
»Jetzt?«, fragte Nakor.
»Nein, wir warten noch«, sagte Erik. »Wenn sie sich Sorgen wegen
einer Annäherung an ihre Zitadelle machen, sollten sie uns
inzwischen gesehen haben, und dann werden sie entweder etwas sehr
Ungastliches tun oder versuchen, über den anderen Fluchtweg zu
fliehen.«
»Was würdet Ihr tun?«, fragte Magnus.
Erik seufzte. »Ich würde mich ducken und so tun, als wäre niemand
zu Hause. Wenn das nicht funktionieren würde, hätte ich einen sehr
unangenehmen Empfang für jeden im Sinn, der versuchte, die Burg zu
betreten.« Er fuchtelte zerstreut mit der Hand. »Wir verfügen über
alte Aufzeichnungen, die selbst damals nicht sehr genau waren, aber
wir wissen, dass die Burg Cavell ein Labyrinth darstellt und es
viele Orte gibt, an denen man im Hinterhalt liegen oder ein paar
unangenehme Fallen zurücklassen kann. Es wird kein Spaziergang
werden.«
Nakor zuckte die Achseln. »Du hast gute Männer.«
»Die Besten«, erwiderte Erik. »Handverlesen und für solche
Situationen ausgebildet, aber ich gefährde sie dennoch
ungern.«
Nakor erklärte leise: »Es geht nicht anders, Erik.«
»Davon bin ich überzeugt, Nakor«, sagte der alte Soldat. »Sonst
wäre ich nicht hier.«
»Was sagt der Herzog von Salador zu all dem?«, fragte
Nakor.
»Er weiß nicht, dass ich hier bin.« Erik sah Nakor an. »Du hast dir
wirklich keine gute Zeit ausgesucht, mich auch noch daran zu
erinnern, alter Freund.«
Nakor zuckte die Achseln. »Können wir uns denn jemals unsere
Momente aussuchen?«
»Es gibt Zeiten, in denen ich denke, ich wäre besser dran gewesen,
wenn Bobby de Longville und Calis mich an diesem kalten, bitteren
Morgen vor so langer Zeit gehängt hätten.« Sein Blick schweifte in
die Ferne, als die Sonne hinter den Felsen verschwand. Dann sah er
wieder Nakor an. »Und dann gibt es Zeiten, in denen ich das nicht
denke. Wenn das hier vorbei ist, werde ich besser wissen, woran ich
bin.« Der alte Mann lächelte. »Gehen wir zurück und warten eine
Weile.«
Er führte Magnus und Nakor einen schmalen Pfad zwischen hohen
Felsen entlang und kam dabei an Soldaten vorbei, die ruhig darauf
warteten, die Felsen über ihnen in Angriff zu nehmen. Bei der
Nachhut standen Diener mit den Pferden bereit, und dahinter gab es
Wagen mit Ausrüstung. Erik winkte seinem persönlichen Junker, der
bei den Jungen beim Gepäck geblieben war.
Der Junker holte ein paar Becher und füllte sie mit Wein aus einem
Schlauch. Nakor nahm einen entgegen und zog die Brauen hoch. »Wein
vor einer Schlacht?«
»Warum nicht?«, fragte der Herzog und nahm einen großen Schluck. Er
wischte sich den Mund mit dem Rücken seines Panzerhandschuhs ab.
»Immerhin schickst du mich quer durchs Königreich, um Mörder
auszugraben. Als ob ich nicht schon genug Sorgen hätte.«
Nakor zuckte die Achseln. »Irgendwer muss es tun, Erik.«
Der alte Krieger schüttelte den Kopf. »Ich habe ein langes Leben
geführt, Nakor, und eins, das interessanter war als das der
meisten. Ich würde lügen, wenn ich behauptete, ich hieße den Tod
willkommen, aber ich wäre sicher gerne meine Lasten los.« Er sah
Nakor mit zusammengekniffenen Augen an. »Ich dachte, genau das
würde passieren, als du an diesem Abend erschienst.«
»Wir brauchen dich«, sagte der Isalani.
»Mein König braucht mich«, erwiderte Erik.
»Die Welt braucht dich«, erklärte Nakor, dann senkte er die Stimme,
damit die in der Nähe ihn nicht hören konnten. »Du bist der einzige
Mann von Rang im Königreich, dem Pug noch vertraut.«
Erik nickte. »Ich verstehe, wieso er sich entschlossen hat, sich
von der Krone zu trennen.« Er trank einen weiteren Schluck Wein und
reichte dann den leeren Becher seinem Junker. Als der Junge dazu
ansetzte, ihn wieder zu füllen, winkte Erik ab. »Aber musste er den
Prinzen von Krondor in Verlegenheit bringen, als er das tat?
Öffentlich? Vor der Armee von Groß-Kesh?«
»Eine alte Geschichte, Erik.«
»Ich wünschte, dem wäre so«, sagte Erik. Er senkte die Stimme noch
weiter. »Ihr werdet es bald hören, falls ihr es nicht schon wisst.
Man hat Prinz Robert zurückgerufen.«
»Das ist nicht gut«, sagte Nakor nickend.
»Wir hatten drei Prinzen in Krondor, seit ich zum Adligen wurde,
und ich bin nur Herzog, weil König Ryan Lord James mit sich nach
Rillanon nahm. Meine derzeitige Position habe ich jetzt neun Jahre
inne, und wenn ich lange genug lebe, wird das vielleicht noch
weitere neun so bleiben.«
»Warum hat man Robert zurückgerufen?«
»Du hast bessere Möglichkeiten als ich, die Wahrheit
herauszufinden«, sagte Erik. Nach längerem Schweigen, während er
zusah, wie der Abendhimmel dunkler wurde, fügte er hinzu: »Politik.
Robert war nie ein beliebter Mann bei den Adligen. Lord James ist
ein Adliger aus dem Westen, was viele von denen stört, die gerne zu
den Beratern des Königs gehören würden. James ist ein kluger Mann,
beinahe so klug wie sein Großvater.« Er warf Nakor einen Blick zu.
»Ein Name, der Erinnerungen hervorruft – Lord James von
Krondor.«
Nakor grinste. »Jimmy war schon eine Plage, bevor er Herzog wurde.«
Er blickte zu den Soldaten auf, die nur auf sein Zeichen warteten,
um mit dem Aufstieg zu beginnen. »Dennoch, wir erinnern uns gern
nur an Größe und vergessen die Fehler, und Jimmy hat seinen Anteil
an Fehlern gemacht. Wenn es Robert nicht wird, wer dann?«
»Es gibt andere Vettern des Königs, die eher imstande sind …« Er
blickte Nakor an, und seine Miene war traurig. »Es könnte zum
Bürgerkrieg kommen, wenn der König nicht vorsichtig ist. Er ist ein
direkter Abkömmling von Lord Borric, aber er hat keine eigenen
Söhne, und es gibt viele Vettern, von denen die meisten einen
Anspruch auf den Thron haben, wenn er keinen Erben
bekommt.«
Nakor zuckte die Achseln. »Ich habe lange gelebt, Erik. Ich habe
Könige in vielen Ländern kommen und gehen sehen. Die Nation wird
überleben.«
»Aber um welchen Preis, alter Freund?«
»Wer wird der neue Prinz von Krondor?«
»Das ist die Frage, nicht wahr?«, sagte der Herzog, stand auf und
bedeutete seinen Männern, sich fertig zu machen. Der Himmel war
dunkel genug; es war Zeit, mit dem Angriff auf die Burg zu
beginnen. »Prinz Edward ist beliebt, intelligent, ein guter Soldat
und jemand, der ein Übereinkommen mit den Adligen erzielen
könnte.«
»Also wird der König einen anderen benennen«, stellte Nakor leise
lachend fest, als Erik begann, sich den Hang
hinaufzubewegen.
Der Herzog schwieg, aber er machte eine Geste, und zwei Männer
eilten hinter Felsen unterhalb der Burg hervor, beide mit
Seilschlingen um ihre Schultern. Sie begannen, die Klippe zu
erklettern, wobei sie nur ihre Hände und Füße benutzten.
Nakor sah zu, als die beiden in der Dunkelheit verschwanden. Sie
bewegten sich wie Spinnen, die eine Wand hinaufkletterten. Nakor
wusste, wie gefährlich es war, diesen Aufstieg zu unternehmen, aber
er wusste auch, dass es die einzige Möglichkeit war, den Soldaten
unten ein Seil zukommen zu lassen.
Erik drehte sich zu Nakor um und sagte: »Ich denke, sie werden
Prinz Henry wählen, denn er kann leicht ersetzt werden, wenn
Königin Anne einen Jungen bekommt. Wenn Edward längere Zeit in
Krondor bliebe, könnte der König ihn vielleicht nicht in ein paar
Jahren … durch … einen … Sohn ersetzen …« Seine Stimme wurde
leiser, als er beobachtete, wie die Männer den Rand des Teichs
erreichten.
»Seltsame Stelle für einen Fluchtweg, über hundert Fuß über dem
Boden, findest du nicht?«, fragte Nakor.
»Ich nehme an, die Nachtgreifer haben hier vor ein paar Jahren ein
wenig Arbeit geleistet. Meine Männer berichten von Werkzeugspuren
an den Felsen. Wahrscheinlich gab es einen Weg nach unten, der
unbrauchbar gemacht wurde.« Er seufzte. »Es ist Zeit. Wo ist dein
Mann?«
Nakor wies nach hinten. »Er liegt unter dem Wagen und
schläft.«
»Dann hol ihn«, sagte Erik von Finstermoor.
Nakor eilte zurück zum Gepäckwagen, wo die beiden Jungen aus dem
Ort warteten, die für die Ausrüstung verantwortlich waren. Sie
unterhielten sich leise, denn sie wussten, wie gefährlich dieser
Auftrag war; dennoch, sie waren Jungen, und das Warten machte sie
ruhelos. Unter dem Wagen lag eine einzelne Gestalt, die sich
schnell bewegte, als Nakor leicht gegen ihre Stiefel
trat.
Ralan Bek wand sich unter dem Wagen hervor und richtete sich dann
auf. Der junge Mann war sechs Zoll größer als sechs Fuß und damit
erheblich größer als der winzige Spieler. Nakor wusste, dass Bek
von einem Aspekt des Gottes des Bösen besessen war, einem winzigen
»Splitter«, wie der Isalani es ausdrückte, einem unermesslich
kleinen Stück des Gottes selbst, und das machte Bek ausgesprochen
gefährlich. Der einzige Vorteil, über den Nakor ihm gegenüber
verfügte, waren Jahre der Erfahrung und das, was er als seine
»Tricks« bezeichnete.
»Zeit?«
Nakor nickte. »Sie werden jeden Augenblick oben sein. Du weißt, was
zu tun ist.«
Bek nickte. Er griff nach unten und setzte seinen Hut auf, eine
Kopfbedeckung, die er einem Mann abgenommen hatte, den er vor
Nakors Nase getötet hatte, und die er nun wie ein Ehrenzeichen
trug. Der schwarze Filzhut mit der weiten Krempe und einer
einzelnen langen Adlerfeder, die vom Hutband nach unten hing, ließ
den jungen Mann beinahe keck aussehen, aber Nakor wusste, dass
unter Beks angenehmem Äußeren ein Potenzial lauerte, das zerstören
konnte, ebenso wie übernatürliche Kraft und
Geschwindigkeit.
Bek ging zur Klippe und wartete. Ein dünnes Seil wurde leise
herabgeworfen, und einen Moment später folgte das nächste. Soldaten
banden schnell schwereres Seil daran, und es wurde nach oben
gezogen. Als das erste Seil gesichert war, löste Ralan Bek seinen
Schwertgurt und band ihn sich über eine Schulter, sodass sein
Schwert nun auf dem Rücken ruhte. Schwungvoll und mit Leichtigkeit
zog er sich an dem Seil hoch, die Füße fest auf dem Felsen, als
hätte er sein ganzes Leben mit Klettern zugebracht. Andere Soldaten
folgten, waren allerdings deutlich langsamer als Bek.
Erik sah, wie der junge Mann im Dunkeln verschwand. »Warum ist es
so wichtig, dass er als Erster geht, Nakor?«
»Er mag nicht unverwundbar sein, Erik, aber er ist erheblich
schwerer umzubringen als deine Männer. Magnus wird sich um alle
kümmern, die den Haupteingang zur Burg bewachen, aber wenn diese
Hintertür magischer Art ist, hat Bek die beste Chance, es zu
überleben.«
»Es gab Zeiten, da wäre ich der Erste gewesen, der das Seil
hinaufklettert.«
Nakor packte den Arm seines Freundes. »Ich bin froh, dass du im
Lauf der Jahre klüger geworden bist, Erik.«
»Mir fällt auf, dass du dich auch nicht freiwillig gemeldet
hast.«
Nakor grinste nur.
Bek wartete und fuhr mit den Fingern über den Umriss der Tür. Sie
war ein Stein wie die anderen, und im Dunkeln konnte er die Risse
nicht sehen, aber seine Fingerspitzen sagten ihm, dass er den
Eingang zum Fluchtweg vor sich hatte. Er ließ seine Sinne
schweifen, denn er hatte früh in seinem Leben entdeckt, dass er
manchmal Dinge voraussah – einen Angriff, eine unerwartete Wendung
des Wegs, die Stimmung eines Pferdes oder den Fall eines Würfels.
Er bezeichnete das als sein »komisches Gefühl«.
Ja, dachte er. Es gab etwas direkt hinter dieser Tür, etwas sehr
Interessantes. Ralan Bek wusste nicht, was Furcht bedeutete. Wie
Nakor erklärt hatte, war etwas sehr anderes, sogar
Nichtmenschliches an dem jungen Mann aus Novindus. Jetzt schaute er
hinunter zu dem kleinen Mann, der neben dem alten Soldaten wartete,
und bemerkte, dass er sie im Dunkeln kaum erkennen konnte. »Licht«,
flüsterte er, und ein Soldat hinter ihm reichte ihm eine kleine,
verschlossene Laterne. Er richtete sie auf Nakor und Erik und
öffnete und schloss sie schnell wieder. Das war das Zeichen, auf
das sie sich geeinigt hatten, vorsichtig vorzugehen.
Nicht, dass Ralan so etwas wie Vorsicht wirklich verstand. Es war
seinen Gedanken so fremd wie Furcht. Er versuchte, vieles von dem
zu verstehen, worüber Nakor mit ihm sprach, aber manchmal nickte er
auch nur und tat so, als verstünde er den seltsamen kleinen Mann,
damit dieser sich nicht endlos wiederholte.
Ralan fuhr weiter mit den Fingern über die Fugen, bis ihm klar
wurde, dass die Tür so konstruiert war, dass sie sich nur von innen
öffnen ließ. Er zuckte die Achseln. »Eisen«, verlangte er, und ein
Soldat trat an ihm vorbei und setzte das Brecheisen dort an, wohin
er zeigte. Der Soldat mühte sich einen Augenblick ab, dann sagte
Bek: »Lass mich.«
Mit übernatürlicher Kraft zwang er einen Schlitz auf, und plötzlich
öffnete sich die Tür mit dem protestierenden Geräusch von
verdrehtem Metall, als ein eiserner Riegel aus den Halterungen
gerissen wurde. Mit einem lauten Scheppern fiel er auf die Steine,
und Bek zog sofort sein Schwert und streckte es in die Öffnung.
Ohne sich wegen des Lärms Gedanken zu machen, wandte er sich den
Soldaten zu und hielt sie mit einer Handbewegung zurück. »Wartet!«,
sagte er, dann ging er hinein.
Die Soldaten kannten ihre Befehle. Bek würde als Erster gehen, und
sie würden nur folgen, wenn er den Befehl dazu gab, oder zehn
Minuten nach ihm. Ein Soldat drehte ein Stundenglas mit
Markierungen aus roten Strichen um, die Einheiten von zehn Minuten
kennzeichneten. Eriks handverlesene Männer hockten sich vor den
Eingang, an den Rand des Teiches, und lauschten dem Wasserfall in
der Dunkelheit.
Bek bewegte sich vorsichtig und ignorierte dabei, dass er nichts sehen konnte. Er trat erst dann mit dem vollen Gewicht auf, wenn er wusste, dass er nicht in eine Grube fallen oder eine Falle auslösen würde. Er wusste, dass er einiges hinnehmen konnte – er war in seinem kurzen Leben schon mehrmals verwundet worden –, aber er war nicht versessener darauf als jeder andere. Außerdem, wenn Nakor recht hatte, gab es weiter entfernt von hier mehr Spaß.
An den kleinen Mann zu denken, ließ Bek einen Moment innehalten. Er mochte ihn nicht, aber andererseits mochte Bek überhaupt niemanden. Seine Gefühle gegenüber anderen Personen waren ziemlich vorhersehbar: Sie stellten entweder Verbündete oder Gegner dar – oder sie waren unbedeutend, wie ein Pferd oder ein anderes Tier, manchmal nützlich, aber überwiegend keine Aufmerksamkeit wert. Der kleine Mann jedoch erweckte seltsame Gefühle in Bek, Gefühle, die er nicht benennen konnte. Er wusste nicht, ob es Vertrautheit war, Vergnügen oder etwas anderes. Seine Vergnügungen neigten dazu, intensiver Natur zu sein: Er sah gerne zu, wie Männer bluteten und schrien, und er mochte grobe Vereinigungen mit Frauen. Er wusste, dass er gerne kämpfte, das Klirren von Stahl, laute Stimmen, Blut und … Tod. Er mochte es, wenn jemand starb – das hatte er vor einiger Zeit herausgefunden. Es faszinierte ihn zu sehen, dass ein Mensch oder ein Tier in dem einen Moment noch am Leben und bei Bewusstsein war und sich bewegte und im nächsten Augenblick einfach wie ein Stück Fleisch am Boden lag. Und nicht einmal wie nützliches Fleisch, wenn es ein Mensch war.
Bek erwartete, ein paar sehr gefährliche Männer zu töten, und er freute sich darauf.Ein leises Geräusch weiter vorn ließ ihn Nakor und seine Verwirrung über die Dinge vergessen, die der alte Spieler dauernd sagte. Jemand bewegte sich rasch auf der anderen Seite des Gangs, und Beks ganzer Körper bebte vor Erwartung.
Er sollte zu den anderen zurückkehren, aber er hatte die Zeit aus den Augen verloren – und wie lange dauerten schon zehn Minuten? Die anderen Soldaten würden ihm ohnehin folgen, und außerdem wollte Bek jetzt ein paar Leute umbringen. Es war lange her, seit er einen guten Kampf genossen hatte. Nakor hatte etwas mit ihm gemacht, und oft tat sein Kopf weh, wenn er versuchte, über bestimmte Dinge nachzudenken. Aber Nakor hatte gesagt, es wäre in Ordnung, wenn er alle umbrachte, die sich in dieser alten Burg aufhielten, nur nicht die anderen Kämpfer des alten Soldaten, die vielleicht von der anderen Seite kamen.
Ralan Bek begann sich ein wenig schwindlig zu fühlen, also schob er mit einem Knurren alles beiseite außer dem Gedanken daran, den zu finden, der im Dunkeln dieses Geräusch verursacht hatte. Er wurde schneller und wäre beinahe mit dem Kopf voran in eine offene Grube gefallen. Nur sein »komisches Gefühl« bewirkte, dass er im letzten Augenblick zurückwich.
Er griff nach einem kleinen Zylinder, den Nakor ihm gegeben hatte, und löste die Kappe. Drinnen befanden sich Stöckchen, und eins davon holte er jetzt heraus. Er verschloss den Zylinder wieder und steckte ihn zurück ins Hemd, dann fuchtelte er heftig mit dem Stöckchen in der Luft, und nach ein paar Sekunden entstand am Ende eine winzige Flamme. Wie Nakor ihm versprochen hatte, war er nach der Dunkelheit der Gänge überrascht über die Menge an Licht, die das brennende Stöckchen liefern konnte.
Bek blickte hinunter zu der Grube, die vor seinen Füßen klaffte, und er konnte nicht einmal ihren Boden sehen. Er war froh, dass er nicht hineingefallen war, nicht, weil er Verletzungen fürchtete, sondern weil er sonst hätte warten müssen, bis die Kämpfer des alten Soldaten ihn einholten. Er wusste nicht, ob sie die Grube bemerken würden, und der Gedanke, dass einer von ihnen auf ihm landete, gefiel ihm überhaupt nicht. Er wusste auch nicht, ob sie genug Seil dabeihätten, um ihn herauszuholen.
Er machte zwei Schritte zurück, setzte dann mit einem gewaltigen Sprung über die Grube und landete leichtfüßig auf der anderen Seite, ein Dutzend Fuß von seinem Absprungpunkt entfernt. Das brennende Stöckchen ließ er fallen und trat es mit dem Absatz aus.
Er blieb stehen, um zu sehen, ob jemand seine Landung bemerkt hatte, und als er sicher sein konnte, dass er unbemerkt geblieben war, ging er weiter den Flur entlang. Einen Moment fragte er sich, ob er etwas hätte zurücklassen sollen, um die Soldaten vor der Grube zu warnen. Dann fragte er sich, wo dieser Gedanke hergekommen war; warum sollte er sich Gedanken machen, ob einer der Männer des alten Soldaten in die Grube fiel? Das war alles zu schwierig, um jetzt darüber nachzudenken; es war etwas, das Nakor verstehen würde. Er hatte keine Zeit, sich darauf einzulassen.
Vor sich konnte er leise Stimmen hören, und er wusste, dass ihn ein Gemetzel erwartete.Magnus betrachtete kritisch den Himmel und kam zu dem Schluss, dass es Zeit war, sich in Bewegung zu setzen, also gab er zwei Männern das Zeichen, ihn auf dem langen Eingangsweg zu der alten Burg zu begleiten. Es sah aus, als wäre diese Straße seit Jahren nicht benutzt worden, aber Magnus hatte sie insgeheim im Morgengrauen untersucht und winzigen Zeichen entnommen, dass all der »Verfall« kunstvoll gefälscht war. Jemand hatte diesen Weg vor nicht allzu langer Zeit benutzt, wollte es aber geheim halten. Das überzeugte ihn mehr als alles andere, dass das Vertrauen seines Vaters zu Joval Delan, dem bezahlten Gedankenleser, gerechtfertigt gewesen war. Hätten sich hier einfach nur Banditen, Schmuggler oder ein paar fehlgeleitete junge Leute niedergelassen, dann hätten sie weder die Mittel noch genug Interesse gehabt, solche Arbeit zu leisten.
Die Soldaten hatten sich den Weg hochgeschlichen, der als Cavell-Pfad bekannt war und die einzige offizielle Möglichkeit darstellte, sich der alten Burg zu nähern. Magnus kannte sich nicht so gut mit militärischen Dingen aus wie sein Vater oder sein Bruder, aber selbst er konnte sich vorstellen, was für eine tödliche Aussicht es darstellte, diese Burg stürmen zu wollen. Nur die Gerüchte über Besessenheit, Dämonen und einen Fluch, gefolgt von beinahe einem Jahrhundert Frieden in dieser Region, hatten dazu geführt, dass eine solch gute militärische Position ungenutzt blieb.
Dennoch, er hatte andere Sorgen, und die erste bestand darin, dass die Männer bei ihm so lange wie möglich unentdeckt blieben. Magnus war immer noch jung, wenn man ihn mit den meisten mächtigen Magiern verglich, und er hatte gewisse Fähigkeiten von seinen Eltern geerbt. Seine Mutter hatte immer den schärferen Instinkt besessen, wenn es darum ging, Magie zu entdecken, aber Pug war besser in der Lage gewesen, das Wesen eines Zaubers oder eines Geräts zu erkennen, sobald sie es entdeckt hatten. Magnus war froh, beides geerbt zu haben. Jetzt gab es ihm die Möglichkeit, mindestens vier der magischen Fallen, die zwischen dem Ende des Wegs und dem uralten Tor oben an der Rampe lagen, zu spüren und ihr Wesen zu verstehen.
Mit den geschickten Bewegungen eines Meisters seiner Kunst konterte Magnus jeden Zauber und gestattete Eriks Leuten, sich schnell und leise zu nähern. Selbst wenn es oben einen Ausguck gab, hätte er die raschen Schritte und die schnell hin und her schießenden grauen Gestalten wohl kaum erkennen können, die im Dunkel der Nacht am Rand des Wegs entlangeilten.
Der Offizier gab seinen Leuten das Zeichen, sich bereitzumachen. Eine alte Zugbrücke hatte einmal über eine Lücke zwischen dem höchsten Teil der Rampe und dem Burgtor geführt. Nun baumelte sie nutzlos auf der anderen Seite der Kluft, die zu breit war, als dass ein Mann darüberspringen könnte. Signale wurden weitergegeben, und von hinten kamen zwei Männer nach vorn gerannt, die Kletterleitern trugen, die als Brücken über den Abgrund dienen würden. Magnus nutzte seine Fähigkeit und schwebte über die Bresche.
Er sah zu, wie die Männer ruhig über die Sprossen gingen und sich an der gähnenden Kluft unter ihren Füßen nicht zu stören schienen. Ein falscher Schritt würde einen Mann in den Tod schicken. Magnus bewunderte ihre Disziplin.
Nun dehnte er seine Wahrnehmung aus und versuchte, weitere magische Fallen zu entdecken, aber er fand keine. Wer immer diese Burg geschützt hatte, hatte sich offenbar damit zufriedengegeben, die Fallen an der Straße anzubringen, um die Bewohner vor jeder unwillkommenen Gesellschaft zu warnen. Magnus ging weiter und kümmerte sich nicht mehr um körperliche Gefahren, denn er spürte etwas in der Ferne, was ihm die Nacken- und Armhaare sträubte.
Er hob die Hand, und ein schwaches Licht ging von seiner Handfläche aus und beleuchtete den Bereich zwischen dem äußeren Tor, wo die Zugbrücke und ein Fallgitter einmal die erste Barriere gebildet hatten, und den inneren Toren, die geschlossen und, wie Magnus annahm, von innen verriegelt waren. Die Soldaten hinter ihm versammelten sich lautlos. In der unheimlichen Beleuchtung sahen Magnus’ helles Haar und seine Gestalt beinahe übernatürlich aus, aber die Soldaten, die auf seine Anweisungen warteten, ließen sich nicht anmerken, ob sie sich unbehaglich fühlten, weil sie unter das Kommando eines Zauberers gestellt worden waren.
Magnus schloss die Augen, um sich besser konzentrieren zu können, und stellte sich die großen Holztore vor. Er dehnte seine Wahrnehmung aus und fuhr mit geistigen Fingern über die Oberfläche des Holzes, dann erhöhte er den Druck, bis er die andere Seite spüren konnte. Dabei erschien ein Bild in seinem Geist, das so klar war, als würde er seine Augen benutzen, und er sah den großen hölzernen Riegel in zwei hölzernen Aufhängungen. Er untersuchte jeden Zoll mit seiner geistigen Berührung, dann öffnete er die Augen und trat zurück. »Es gibt eine Falle«, sagte er leise zu dem Offizier, der rechts von ihm stand.
»Was schlagt Ihr vor?«, fragte der junge Leutnant.»Ich werde einen Weg durch dieses Tor finden,
ohne den Riegel zu heben«, antwortete Magnus.
Er streckte die Hand aus, und die, die ihm am nächsten standen,
konnten ein leises Summen hören. Plötzlich befand sich ein Loch
unten an dem Tor, groß genug, dass ein Mann auf Händen und Knien
durchkriechen konnte. »Einer nach dem anderen«, wies Magnus den
Offizier an, »und keiner darf das Tor oder die Mauern an beiden
Seiten berühren.«
Der Offizier gab das schnell weiter, und rasch krochen die Männer
hindurch. Magnus hielt sich bereit, um die Magie zu beherrschen,
die freigesetzt würde, falls ein Mann einen Fehler machen sollte,
aber das erwies sich als unnötig. Alle Soldaten taten genau, was
man ihnen sagte.
Dann war es an Magnus hindurchzukriechen, was er recht ungelenk
tat, da sein Gewand ihm im Weg war. Auf halbem Weg durch das Loch
war er gezwungen, erst ein Knie, dann das andere zu heben und den
Stoff vor sich zu ziehen, um nicht aufs Gesicht zu
fallen.
Er lachte leise, als er aufstand, und sagte: »Es gibt Zeiten, und
dies ist eine davon, wo ich es meinem Vater wirklich übelnehme,
dass er uns Magier dazu veranlasst hat, Gewänder wie diese zu
tragen.«
Der Leutnant erwies sich als humorloser Mann. »Herr?«
Magnus seufzte. »Schon gut.« Er sah die Soldaten an. »Bleibt hinter
mir, es sei denn, ich sage Euch, dass Ihr voraneilen sollt. Es gibt
hier Kräfte, denen selbst der tapferste Mann ohne meine Künste
nicht entgegentreten kann. Wenn Ihr jemanden seht, der nicht Ralan
Bek oder einer Eurer eigenen Leute ist, tötet ihn
sofort.«
Dann drehte er sich um und ging weiter in die Dunkelheit, und das
Licht von seiner Hand wackelte wie eine schwingende Laterne.
Bek bewegte sich inzwischen wieder, als ginge er eine Straße entlang, und störte sich nicht an der Dunkelheit. Licht fiel aus mehreren entfernten Räumen am Ende von Gängen, die den kreuzten, den er sich gewählt hatte, aber er ignorierte das und ging weiter geradeaus. Er wusste nicht, weshalb er es wusste, aber er spürte, dass man direkt geradeaus von dem geheimen Eingang zur Burg zu ihrer innersten Kammer gelangte, die vermutlich eine große alte Halle oder ein Thronsaal war.
Er war in freudiger Erwartung des auf ihn zukommenden Kampfes. Einige der Dinge, die Nakor ihn tun ließ, gefielen ihm, aber er hatte viel zu lange in keinem Kampf mehr gestanden. Sicher, in der einen oder anderen Schänke konnte er ein paar Schädel einschlagen, aber es hatte kein ernsthaftes Blutvergießen mehr gegeben, seit er im Jahr zuvor diesen Kaiser für Nakor tötete. Das hatte Spaß gemacht. Er hätte beinahe laut gelacht, als er sich an die verblüfften Gesichter von all jenen erinnerte, die zu ihm aufblickten, als er sein Schwert direkt in den Rücken des alten Mannes stieß.
Ein Mann mit schwarzer Rüstung, aber ohne Helm, kam um eine Ecke, und noch bevor er aufhörte, sich zu bewegen, hatte Ralan Bek bereits seine Schwertspitze in die Kehle des Mannes gestoßen, die über dem Brustharnisch offen lag. Der Mann sackte mit ziemlich viel Krach zusammen, aber das war Bek egal. Weniger als hundert Fuß vor ihm leuchtete ein Licht, und er wollte es unbedingt erreichen und mit der wirklichen Zerstörung beginnen.
Er eilte den Rest des düsteren Flurs entlang in einen Raum mit hoher Decke. Es war tatsächlich eine Burghalle im alten Stil, in der sich im Winter die Familie und die wichtigsten Diener des ursprünglichen Herrschers von Burg Cavell in den kalten Nächten sogar zum Schlafen aufgehalten hatten.
Die hohe Decke wurde immer noch von massiven Holzbalken gehalten, die durch ihr Alter inzwischen so hart wie Stahl waren, aber die einstmals weiß gekalkten Wände waren nun dunkelgrau, und hoch in der Dunkelheit über sich konnte Bek Fledermäuse flattern hören. Keine Wandbehänge hingen mehr an den Wänden, um die Bewohner vor der Winterkälte in den Steinen zu schützen, und es gab auch keine Teppiche am Boden. Aber in der gewaltigen Feuerstelle links von der Tür, durch die er hereingekommen war, brannte ein Feuer. Das Schwert in der Hand und ein verrücktes Grinsen auf den Lippen, betrachtete er die zwei Dutzend Männer, die vor dem Feuer ruhten.
Inmitten dieser Gruppe saßen zwei weitere Männer, beide auf großen Sesseln im alten Stil. Die anderen saßen auf Hockern oder einfach nur auf ihren schwarzen Umhängen, die sie auf dem Boden ausgebreitet hatten. Alle trugen schwarze Rüstungen, das Zeichen der Nachtgreifer, bis auf die beiden Männer in der Mitte. Einer von ihnen war in einen Waffenrock aus fein gewebtem Leinen, Hose und Stiefel gekleidet, die eines hohen Adligen würdig gewesen wären, aber alles wirkte weit an seinem Körper, als hätte er in der letzten Zeit viel an Gewicht verloren; der andere trug das schwarze Gewand eines Priesters oder Magiers. Der Mann in dem Waffenrock hatte ein schweres goldenes Amulett um den Hals, identisch mit dem schwarzen Amulett, das Nakor Bek gezeigt hatte. Der Mann in dem Gewand trug keinen Schmuck. Er war dünn und hatte keine Haare an Gesicht oder Kopf.
Einen Augenblick, nachdem Bek erschienen war, beeilten sich die achtzehn sitzenden Männer aufzustehen, und zwei bliesen auf Knochenpfeifen, was einen kreischenden Alarm in der Burg erklingen ließ.
Der ausgemergelte Mann mit dem Gold um den Hals riss die Augen weit auf, zeigte auf Bek und schrie: »Tötet ihn!«
Als der erste Schwertkämpfer die Waffe hob, packte Bek sein eigenes Schwert mit beiden Händen, kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und konzentrierte sich erwartungsvoll auf das bevorstehende Gemetzel. Aber der Mann in dem Gewand rief: »Nein! Halt!«, und sah Bek staunend an.
Alle, Bek eingeschlossen, erstarrten, als der Mann sich zwischen den Schwertkämpfern hindurchdrängte. Er schob sich an dem Mann vorbei, der Ralan Bek am nächsten stand, und ging direkt auf den jungen Krieger zu. Bek spürte eine seltsame Macht in ihm, und sein »komisches Gefühl« sagte ihm, dass etwas Ungewöhnliches bevorstand. Er zögerte einen Moment, dann begann er, das Schwert nach dem Mann im Gewand zu schwingen.
Der Mann hob die Hand, aber nicht verteidigend, sondern untertänig. »Wartet«, sagte er, als Bek erneut zögerte. Er streckte langsam, beinahe sanft, die Hand aus, legte sie auf Beks Brust und sagte noch einmal: »Wartet.«
Dann ließ er sich langsam auf die Knie nieder, und mit einer Stimme, die kaum mehr als ein Flüstern war, sagte er: »Was wünscht unser Herr von uns?«
Der Mann mit dem Amulett sah in stummem Staunen zu, dann ließ auch er sich auf die Knie nieder, einen Moment später gefolgt von allen Männern im Raum. Ein weiteres halbes Dutzend kam aus anderen Teilen der Burg angerannt, in Reaktion auf den Alarm. Als sie ihre Brüder auf den Knien und mit gesenktem Blick sahen, folgen sie diesem Beispiel.
Bek senkte das Schwert ein wenig. »Was soll
das?«
»Was verlangt unser Herr von uns?«, fragte der Mann in dem Gewand
erneut.
Bek versuchte aus dem, was er von Nakor, Pug und den anderen auf
der Insel des Zauberers gehört hatte, eine Antwort zu finden.
Schließlich sagte er: »Varen ist weg. Er ist in eine andere Welt
geflohen.«
»Nicht Varen«, sagte der Mann im Gewand. »Er war nur der Höchste
unter den Dienern unseres Herrn.« Der Mann streckte langsam die
Hand aus und berührte Beks Brust. »Ich kann unseren Herrn spüren,
dort in Euch. Er lebt in Euch, er spricht durch Euch.« Wieder hob
er den Blick zu Bek und fragte noch einmal: »Was verlangt unser
Herr von uns?«
Bek war zum Kampf bereit gewesen, und das hier ging über sein
Verständnis hinaus. Langsam sah er sich im Raum um und sagte
schließlich mit wachsender Enttäuschung in der Stimme: »Ich weiß es
nicht …« Dann hob er plötzlich das Schwert, riss es nach unten und
schrie: »Ich weiß es nicht!«
Minuten später stürmte Magnus mit einer Gruppe von Eriks Soldaten
in den Raum, und weitere Soldaten des Königreichs kamen durch das
gleiche Tor wie Bek. Alle blieben stehen, als sie die Szene vor
sich sahen. Sechsundzwanzig Leichen lagen auf dem Boden, aber es
gab kein Anzeichen für einen Kampf, nur sechsundzwanzig kopflose
Leichen und ein Meer von Blut. Köpfe rollten immer noch über die
rot gefärbten Steine und blutdurchtränkten Umhänge.
Das Feuer knisterte. Bek stand daneben, von Blut bedeckt. Seine
Arme waren scharlachrot bis zu den Ellbogen, und Blut war auf
seinem Gesicht verschmiert. Er sah aus wie ein Dämon, der vom
Wahnsinn befallen war. Magnus konnte es in seinen Augen sehen. Der
junge Mann zitterte so sehr, dass der Magier befürchtete, er werde
in Zuckungen verfallen.
Schließlich warf Ralan Bek den Kopf zurück und stieß ein Heulen
aus, das von den Steinen der Decke widerhallte. Es war ein
urtümlicher Ausbruch von Zorn und Frustration, und als die Echos
verklungen waren, sah er sich im Raum um, und dann schaute er
Magnus an. Wie ein schmollendes Kind zeigte er auf die Leichen und
sagte: »Das hat überhaupt keinen Spaß gemacht!«
Er wischte sein Schwert am Waffenrock einer Leiche ab und schob es
in die Scheide. Dann griff er nach einem Eimer Wasser, der nahe der
Feuerstelle gestanden hatte, um warm zu werden, hob ihn, goss sich
das Wasser über den Kopf, ohne auch nur den Hut abzunehmen, und
griff sich dann einen relativ sauberen Umhang, den er als Handtuch
benutzte. Er säuberte sich so gut er konnte, dann erklärte er ein
wenig beherrschter: »Es macht keinen Spaß, wenn sie nicht kämpfen,
Magnus.« Er sah sich noch einmal im Raum um und sagte: »Ich habe
Hunger. Hat jemand etwas zu essen?«
Vorbereitung
Miranda schimpfte laut.
»Hast du den Verstand verloren?«, rief sie erheb
lich schriller, als es in dem kleinen Raum notwendig
gewesen wäre.
Magnus beobachtete seine Mutter mit verborgener
Heiterkeit, als sie vom Schreibtisch ihres Mannes
wegging und sich dann so weit von ihm entfernt, wie
es in dem kleinen Zimmer möglich war, mit dramatisch wütender Miene
wieder umdrehte. Sie wurde
oft laut wegen Angelegenheiten, die schließlich doch
genau so endeten, wie sein Vater es wünschte. Aber
Pug hatte im Lauf der Jahre gelernt, dass das häufig
lebhafte Wesen seiner Frau verlangte, dass sie ihre
Frustrationen körperlich ausdrückte.
»Hast du den Verstand verloren?«, kreischte Miranda ein zweites
Mal.
»Nicht mehr als du, als du beinahe ein halbes Jahr
damit verbrachtest, die Armee der Smaragdkönigin
in Novindus zu beschatten«, sagte Pug ruhig und
stand hinter seinem Schreibtisch auf.
»Das war etwas ganz anderes!«, schrie Miranda,
die mit ihrer Szene noch nicht fertig war. »Kein pantathianischer
Schlangenpriester konnte mich finden
und erst recht nicht herausfordern, und ich bin diejenige, die sich
ohne eine Tsurani-Kugel transportieren
kann, hast du das vergessen?«
Magnus sah, dass sein Vater zu einer Bemerkung
ansetzte – vielleicht darüber, dass auch Nakor, Pug
und Magnus diese Fähigkeit immer besser lernten –
und es sich dann anders überlegte und schwieg, als
Miranda fortfuhr.
»Du sprichst hier davon, in eine fremde Welt zu gehen! Nicht nur in
eine fremde Welt, sondern auf eine
andere Ebene der Realität! Wer weiß, welche Kräfte
dir dort bleiben werden, wenn überhaupt welche.« Sie
zeigte auf Pug. »Du weißt nicht einmal, wie du dorthin
gelangen kannst, und sag mir nicht, dass du den Talnoy
auf Kelewan benutzen wirst, um dort einen Spalt zu
verankern. Ich weiß genug über Spalte, um mir darüber
klar zu sein, dass du am Ende auf dem Grund eines
giftigen Meeres, inmitten eines Schlachtfelds oder an
irgendeinem anderen tödlichen Ort auftauchen könntest! Du würdest
vollkommen blind dorthin gehen!« »Ich werde nicht blind sein«,
widersprach Pug und
hob demütig die Hände. »Bitte, wir müssen mehr
über die Dasati erfahren.«
»Warum?«, wollte Miranda wissen.
»Weil ich das Orakel aufgesucht habe.« Er brauchte weder seiner
Frau noch seinem Sohn zu sagen, um
welches Orakel es ging.
Mirandas Zorn verebbte schnell, als die Neugier
einsetzte. »Was hat sie gesagt?«
»Sie kommen. Es gibt zu viele Unsicherheiten, um
jetzt mehr zu sagen – ich werde später zu dem Orakel
zurückkehren, wenn die Ereignisse näher rücken.
Aber im Augenblick müssen wir mehr über dieses
Volk herausfinden.«
»Aber die Talnoy in Novindus sind von einem
Schutzzauber umgeben und so reglos und ohne magische Präsenz, wie
sie es all die zahllosen Jahre waren, in denen sie verborgen
lagen«, erwiderte Miranda. »Wenn sie einen Schutzzauber haben, wie
können die Dasati uns finden?«
Pug konnte nur den Kopf schütteln. »Ich weiß es
nicht. Aber das Orakel irrt sich selten, wenn es über
Dinge spricht, als wären sie vollkommen sicher.« Magnus spürte,
dass ein neuer Streit begann, und
wechselte geschickt das Thema: »Und ich frage dich
noch einmal, wie ich es schon viele Male zuvor getan
habe«, sagte er wie ein geduldiger Lehrer, »wer hat
die Talnoy dorthin gebracht?«
Pug wusste, dass die Frage rhetorisch war, da sie
zwar über mehrere Theorien, jedoch nicht über Tatsachen verfügten,
aber er dankte seinem Sohn lautlos
dafür, dass er den Zorn seiner Frau abgelenkt hatte.
Der erste Gedanke des Konklaves war gewesen, dass
einer der Valheru, ein Drachenlord aus uralter Zeit,
die Talnoy mitgebracht hatte, aber es gab keine Beweise dafür.
Tomas, Pugs Kindheitsfreund, trug die
Erinnerungen von einem aus dem uralten Heer der
Drachen in sich, und er wusste nichts darüber, dass
einer seiner Brüder von ihrem schlecht beratenen Überfall auf die
Welt der Dasati mit auch nur einem einzigen Talnoy als Trophäe
heimgekehrt wäre, nicht zu reden von Hunderten. Sie waren zu sehr
damit beschäftigt gewesen, diese teuflischen Geschöpfe davon
abzuhalten, sie zu vernichten; mehrere Drachenreiter waren bei dem
Eindringen in das Reich der Dasati umgekommen. Am Ende gab es nur
einen
unausweichlichen Schluss.
»Macros.«
Miranda nickte zustimmend. Ihr Vater, Macros der
Schwarze, war ein Diener des verlorenen Gottes der
Magie gewesen. »Wohin wir uns auch drehen und
wenden, wir stoßen immer wieder auf eine von Vaters Intrigen.« Sie
verschränkte die Arme und schien
in weite Ferne zu blicken, als sie sich an etwas erinnerte. »Ich
erinnere mich, wie er einmal …« Dann
schaute sie den Höhlenboden an, und auf ihrem Gesicht zeichneten
sich wechselnde Emotionen ab, als
wäre das, woran sie sich erinnerte, schmerzhaft. »Ich
war so viele Jahre zornig auf ihn, weil er mich verlassen hat
…«
Pug nickte mitfühlend. Er war bei seiner Frau gewesen, als sie
schließlich wieder mit ihrem Vater
vereint wurde, und erinnerte sich an ihren nur
schlecht verborgenen Zorn, als sie ihn nach Jahren
der Entfremdung wiedersah. Er erinnerte sich auch
an ihre Trauer, als er von dem Spalt verschlungen
wurde, der sich um ihn und den Dämonenlord Maarg
schloss, und er sein Leben in einer Verzweiflungstat
gab, die diese Welt rettete.
Miranda schob ihre Erinnerungen schließlich beiseite. »Aber jetzt
haben wir es mit einem weiteren seiner Durcheinander zu tun, wie?«,
fragte sie. In ihrem Tonfall lag eine Spur von liebevollem
Humor,
ebenso wie ein wenig Bitterkeit.
Bevor seine Mutter erneut in finstere Stimmung
verfallen konnte, diesmal wegen seines Großvaters,
sagte Magnus: »Wir wissen, dass Großvater etwas
damit zu tun hatte, den einen Talnoy, den wir gefunden haben, vor
Dasati-Spalten zu schützen, und seine
Schutzzauber umgeben die anderen immer noch.« Beide Eltern sahen
ihren älteren Sohn an, und Miranda stellte fest: »Das wissen wir,
Magnus. Was
willst du uns damit sagen?«
»Großvater hat nie etwas ohne Grund getan, und
alles, was ihr mir erzählt habt, lässt mich schließen,
dass er irgendwie wusste, dass eines Tages einer von
euch die Talnoy entdecken würde, und das wiederum
bringt mich dazu zu glauben, dass er auch wusste,
dass es zu einer Auseinandersetzung mit den Dasati
kommen würde.«
Pug seufzte laut. »Dein Vater«, sagte er zu seiner
Frau, »wusste mehr über Zeitreisen als jeder andere.
Ihr Götter, wir alle zusammen wissen wahrscheinlich
nur ein Hundertstel von dem, was er wusste. Was er
mit Tomas und Ashen-Shugar tat, dem Valheru aus
uralter Zeit, seine Fähigkeit, die Zeitfalle zu verstehen, die die
Pantathianer uns stellten, und der ganze
Rest … Ich habe versucht, so viel wie ich konnte
über das zu erfahren, was er tat, aber das meiste bleibt mir ein
Rätsel. In dieser Sache stimme ich Magnus allerdings zu. Er hat
Dinge wie die in Novindus aus einem bestimmten Grund
zurückgelassen, und ich glaube, dieser Grund hat mit dem
Konklave
zu tun.«
Miranda wirkte nicht überzeugt, schwieg aber. »Mutter«, sagte
Magnus, »wenn Großvater nicht
gewollt hätte, dass die Talnoy gefunden werden, hätte er über
genügend Magie verfügt, um diese Höhle
unter einem Berg zu begraben, wo es Jahrtausende
gedauert hätte, sie zu entdecken. Etwas Großes und
Gefährliches bewegt sich da draußen.« Er machte
eine weit ausholende Geste. »Und dieses Ding
kommt auf uns zu, ganz gleich, was wir tun.« »Wir können nur
versuchen, das Wesen unseres
Feindes zu verstehen, sein Gesicht zu sehen«, sagte
Pug.
»Nun, ich bin immer noch nicht bereit zu behaupten, dass es sich um
einen guten Plan handelt«, erklärte Miranda. »aber ihr beiden wisst
ohnehin bereits, was ihr tun werdet. Wie schlagt ihr also
vor,
zur Welt der Dasati zu gelangen, am Leben zu bleiben und die
Informationen zurückzubringen, oder
sind diese Einzelheiten zu banal, als dass ihr euch
damit abgeben würdet?«
Pug musste lachen. »Sie sind alles andere als banal, meine Liebe.
Ich habe vor, nach jemandem zu
suchen, der schon einmal in diesem Reich gewesen
ist und uns vielleicht dorthin führen kann.«
»Und wo glaubst du eine solche Person zu finden?«, fragte Miranda.
»Gibt es jemanden auf dieser
Welt, der den zweiten Kreis der Realität aufgesucht
hat?«
»Wahrscheinlich nicht«, antwortete Pug. »Aber
ich werde mich auch nicht auf dieser Welt nach ihm
umsehen. Ich habe vor, es beim Ehrlichen John zu
versuchen.«
Miranda erstarrte einen Augenblick, als er das
Etablissement im Herzen des Gangs der Welten erwähnte. Dann nickte
sie knapp. »Wenn es irgendwo
eine solche Person gibt, dann würde ich ebenfalls
dort suchen.«
Magnus fragte: »Wer wird mit dir kommen, Vater?«
Pug warf seinem Sohn einen warnenden Blick zu,
denn er wusste, dass dies zu einer weiteren Runde
von Zornesausbrüchen von Miranda führen könnte,
die bereits begann, ihren Mann wieder mit einem
neugierigen Blick zu messen. Pug holte tief Luft,
dann sagte er: »Du, Nakor und Bek.«
Statt des erwarteten Ausbruchs von Miranda fragte
sie nur: »Warum?«
»Magnus, weil er bereit ist und ich jemanden an
meiner Seite brauche, der ebenso mächtig ist wie ich
– und du musst hierbleiben und die Angelegenheiten
des Konklaves weiterführen und außerdem die Versammlung aufsuchen
und dich nach ihren Fortschritten mit dem Talnoy erkundigen.« Er
wartete, und als
sie weiterhin schwieg, fuhr er fort: »Bek, weil …
weil mir etwas sagt, dass er wichtig ist, und Nakor, weil er der
Einzige ist, der Bek beherrschen kann. Und wenn irgendwer uns aus
einer unmöglichen Si
tuation herausbringen kann, dann ist es Nakor.« »Du hast alles
bereits geplant«, stellte Miranda
fest, »also nehme ich an, es hat keinen Sinn mehr,
darüber zu streiten. Ich weiß nicht einmal, ob man
tatsächlich eine Möglichkeit finden kann, um die
zweite Ebene aufzusuchen.«
»Wir müssen es dennoch versuchen.«
»Wann brichst du auf?«, fragte Miranda.
»In den Gang? Morgen. Ich muss mich hier noch
um ein paar Dinge kümmern, bevor ich gehe.« Zu Magnus sagte er:
»Warum siehst du nicht mal nach, wie
sich die Jungen in Roldem machen, und kehrst etwa
einen Tag später hierher zurück und lässt die Frau
deines Bruders wissen, wie es ihren Jungen geht?« Magnus nickte.
»Was ist mit den Talnoy in Novindus?«
Pug blieb in der Tür zu seinem Arbeitszimmer stehen. »Rosenvar und
Jacob werden sie im Auge behalten. Wenn etwas Ungewöhnliches
geschieht, können Nakor oder ich selbst schnell genug hierher
zurückkehren. Es wird einige Zeit dauern, bis wir zur
Dasati-Welt aufbrechen. Ich werde auch selbst noch
einmal rasch nach Kelewan reisen und nachsehen, ob
es dort eine Spur von Varens Anwesenheit gibt.« »Glaubst du, er
wird dumm genug sein, sich zu
zeigen?«, fragte Magnus.
»Er ist klug«, sagte Pug. »Er ist auf seine verdrehte Art sogar
brillant, aber er ist auch ein gehetzter Mann. Sein Wahnsinn hat
ihn im Lauf der Jahre impulsiver werden lassen. Die Dauer zwischen
seinen Angriffen wird immer geringer. Entweder wird er dort drüben
etwas Übereiltes tun oder nach Midkemia zurückkehren. Wie auch
immer, wir werden ihn schließlich entdecken, und diesmal hat er
keine einfache Möglichkeit mehr, von einem neuen Körper
Besitz zu ergreifen.«
»Was ist mit einer schwierigen Möglichkeit?«,
fragte Miranda.
»Wie meinst du das?«
»Du sagtest, diesmal habe er keine einfache Möglichkeit mehr, einen
neuen Körper zu übernehmen.
Das verstehe ich, denn immerhin hast du den Behälter seiner Seele
zerstört, aber er weiß immer noch,
wie man den Körper eines anderen in Besitz nimmt,
und könnte es nicht auch andere Möglichkeiten geben, die vielleicht
weniger einfach sind, aber ebenso
gut funktionieren?«
»Daran hatte ich nicht gedacht«, gab Pug zu. Miranda konnte ihre
Selbstzufriedenheit kaum
verbergen.
»Dann müssen wir ebenso gewissenhaft wie heimlich vorgehen«, schlug
Pug schließlich vor und ignorierte die überlegene Miene seiner
Frau. »Ich werde
bei einigen nicht gerade hochgeborenen Quellen in
Kelewan Informationen einholen, und du stellst fest,
was du in der Versammlung herausfinden kannst,
während ich zum Gang reise. Vertraue unter den Erhabenen nur
Alenca.«
»Wie kann ich irgendwem vertrauen?«, fragte Miranda. »Nachdem er
Besitz vom Kaiser von Kesh ergriffen hat, ist es wohl sicher
anzunehmen, dass Varen jeder auf Kelewan sein könnte, ihr Kaiser
ein
geschlossen.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Pug. »Bedenke, dass
er den Seelenkrug ins Abflusssystem nahe dem Palast des Kaisers
brachte. Ich denke schon, dass der
Ort viel damit zu tun hat, wen er erreichen kann. Ohne den Krug
musste er blind springen und den Körper benutzen, der ihm am
nächsten war. Da sein ›Todesspalt‹ in vielerlei Hinsicht wie
normale Spalte
reagierte, würde ich erwarten, dass er ihn an einen
Punkt nahe der Versammlung gebracht hat, wenn
nicht gar direkt in ihre Hallen. Und da er ein körperloser Geist
war, wären die üblichen Verteidigungsmaßnahmen der Versammlung
nutzlos – genau aus
diesem Grund halte ich es auch für unwahrscheinlich, dass er jemals
einen hochrangigen Geistlichen
bewohnen könnte, auf dieser Welt oder in Kelewan;
Schutzzauber gegen Geister sind in Tempeln sehr
verbreitet.«
»Also gut«, sagte Miranda. »Ich werde mit Alenca
sprechen, wenn ich gehe. Nun bleibt nur noch eine
weitere Frage.«
»Ja?« Pug wollte sich offensichtlich so schnell wie
möglich auf den Weg machen.
»Wenn du nach Kelewan gehen willst, ohne dass die
Versammlung davon erfährt, wie willst du dann durch
den Spalt gelangen, ohne dass sie es bemerken?« Pug lächelte, und
Jahre schienen von ihm abzufal
len. »Ein Trick, wie Nakor es nennen würde.« Er verließ das Zimmer,
und Magnus fing an zu lachen, als er die verblüffte Miene seiner
Mutter sah. Miranda starrte ihren älteren Sohn wütend an.
»Dieser ärgerliche kleine Mann hat einen so schlechten Einfluss auf
alle hier!«
Nun lachte Magnus noch lauter.
Pug schlich eine Seitenstraße entlang, das Gesicht unter einer Kapuze so gut wie verborgen. Bärte waren unter Freien im Tsurani-Reich selten und wurden überwiegend von Personen, die in Midkemia geboren waren, und von ein paar rebellischen jungen Männern getragen. Spätabends unterwegs zu sein und einen Bart zu haben, führte beinahe mit Sicherheit dazu, dass man von der Stadtwache aufgehalten wurde. Und obwohl sein Rang als Angehöriger der Versammlung der Magier bedeutete, dass jeder Soldat und jeder Wachtmeister ihm sofort gehorchen würden, wenn er sich zu erkennen gab, wollte Pug doch vermeiden, dass andere seinen heimlichen Besuch bemerkten.
Das Haus, das er aufsuchte, war bescheiden und lag an einer Seitenstraße in einem Viertel von Jamar, das gegenüber den Slums und Docks zwar eine Verbesserung darstellte, aber keine allzu offensichtliche. Dennoch, die Häuser dort waren zwar klein und schlicht, aber der weiße Anstrich, der bei TsuraniBehausungen üblich war, wurde einigermaßen sauber gehalten, und die Straßen waren nicht zu sehr mit Abfällen verstopft. Es gab sogar eine Straßenlampe ein Stück hinter ihm.
Pug erreichte das gewünschte Haus und klopfte laut an die Holztür. Von drinnen sagte eine Stimme: »Kommt herein, Milamber.«
Pug betrat das kleine Haus, das kaum mehr als eine Ein-Raum-Hütte war, und sagte: »Ich grüße Euch, Sinboya.«
Der alte Mann saß auf einer Binsenmatte am Boden hinter einem kleinen, niedrigen Tisch, auf dem eine einzelne Lampe stand, deren Flamme den Raum kaum beleuchtete. Ein kleiner Holzofen in der Ecke lieferte Hitze zum Kochen, und es wurde im Kaiserreich selten kalt genug, dass sich jemand Sorgen um die Wärme im Haus machen musste. Ein Vorhang trennte einen Schlafplatz ab, und eine Hintertür führte zu einem Bereich, in dem sich, wie Pug wusste, ein kleiner Gemüsegarten und ein Außenabort befanden.
Der alte Mann hinter dem Tisch war dürr, und man sah ihm jede einzelne Minute seiner über achtzig Jahre an. Sein dünnes Haar war weiß, und seine blauen Augen waren von einer Membran überzogen, aber Pug wusste, dass sein Geist so scharf war wie vor dreißig Jahren, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren.
»Ihr wusstet, dass ich komme?«, fragte Pug.
»Ich mag nicht über Eure erstaunliche Macht verfügen, Milamber«,
sagte er und benutzte Pugs Tsurani-Namen, »aber ich bin ein Meister
meines Fachs, und meine Schutzzauber sind unübertroffen. Ich kann
das Nahen von Freunden ebenso erkennen wie das von Feinden.« Zwei
Porzellantassen standen auf dem Tisch, und er goss heißes Wasser
aus einem wertvollen Metalltopf hinein. »Chocha?«
»Danke«, erwiderte Pug.
»Dann setzt Euch bitte.«
Pug ließ sich auf dem Boden nieder und zog sein unauffälliges,
hellblaues Reisegewand zurecht, über dem er einen Kapuzenumhang
getragen hatte.
Das Sehvermögen des alten Mannes ließ nach, aber er war immer noch
aufmerksam genug, dass Pugs Art sich anzuziehen ihm auffiel. »Ihr
seid inkognito unterwegs?«
»Ich möchte nicht, dass andere aus der Versammlung erfahren, dass
ich hier bin«, erwiderte Pug.
Der faltige alte Magier lachte leise. »Eure Geschichte in Bezug auf
die Versammlung ist recht spannend. Ich glaube, zu einem bestimmten
Zeitpunkt haben sie Euch sogar ausgestoßen und überall im
Kaiserreich als Verräter gebrandmarkt.«
»Diesmal ist es nicht ganz so extrem, aber es gibt ernste Sorgen,
die mich in einen gewissen Nachteil gegenüber der Versammlung
bringen; kurz gesagt, ich kann keinem ihrer Mitglieder
trauen.«
»Womit kann ich Euch helfen, alter Freund?«
»Es gibt im Kaiserreich einen Flüchtling aus meiner Welt, einen
ausgesprochen tückischen und gefährlichen Zauberer, und er ist
vielleicht unmöglich zu finden.«
»Ihr zeichnet bereits ein sehr ernstes Bild«, sagte Sinboya. »Wenn
Ihr ihn nicht finden könnt, dann ist er
wirklich nicht leicht zu finden.«
Pug nickte und trank einen Schluck des heißen Getränks. Die vier
Jahre, die er in der Versammlung verbracht hatte, um als einer der
Erhabenen des Kaiserreichs ausgebildet zu werden, hatten ihn
gelehrt, das bittere Gebräu zu genießen, das ihn immer an einen
sehr bitteren Tee erinnerte, den es in Novindus gab. »Er verfügt
über die Macht, den Körper eines anderen in Besitz zu nehmen, und
es wird selbst denen, die seinem Wirt sehr nahestehen,
schwerfallen, ihn zu entdecken.«
»Ah, einer, der andere in Besitz nimmt. Ich habe Geschichten über
solche Menschen gehört, aber oft sind die Geschichten nicht mehr
als das und beinhalten keinerlei Wahrheit.« Sinboya war ein Magier
des niederen Pfads, ganz ähnlich wie Pugs erster Lehrer Kulgan,
einer Magie, die erst viel später in Pugs Ausbildung begann, seinem
Temperament zu entsprechen. Pug kannte sich in allen Formen der
Magie aus, aber anders als Sinboya war er kein Spezialist in diesem
Bereich. »Ich nehme also an, dieser Besuch hat nicht so sehr mit
dem Vergnügen meiner Gesellschaft zu tun als mit einem Gerät oder
Amulett, das ich für Euch herstellen kann?«
»Es tut mir leid, dass ich Euch so lange nicht besucht
habe.«
»Das ist nicht nötig. Wenn nur die Hälfte dessen stimmt, was ich
durch Gerüchte vernommen habe, braucht Ihr die doppelte Anzahl von
Stunden am Tag.«
»Ich suche nach etwas, das Nekromantie entdecken kann«, erklärte
Pug.
Der alte Magier saß einen Augenblick still da. »Ihr wisst, dass
Nekromantie verboten ist.«
»Ich weiß das, aber einige werden von erheblich mehr getrieben als
nur von der Angst, entdeckt zu werden.«
»Es ist wahr, die Verlockung der dunklen Künste kann gewaltig sein.
Wiederbelebung und Beherrschung der Toten, das Benutzen der
Lebensenergie von anderen und das Schaffen falschen Lebens sind in
den Augen eines jeden Tempels Abscheulichkeiten, und die Magier zur
Zeit der Gründung der Versammlung fürchteten solche Menschen.« Der
alte Magier lachte leise. »Ihr werdet niemals hören, dass ein
Erhabener der Tsurani dies zugibt, aber einiges von meiner
›niederen‹ Berufung kann gewaltige Ebenen der Macht erreichen. Es
braucht Zeit, um beide Wege zu lernen, aber der erhabene Weg führt
schneller zur Macht. Nur wenige hingegen wissen, dass der niedere
Weg zwar langsamer ist, aber zu größerer Macht führt. Ich kann,
wenn ich genügend Zeit und Material habe, Amulette schaffen, die
Dinge tun können, die niemand vom erhabenen Weg – vielleicht mit
Ausnahme von Euch, Milamber – nachmachen könnte. Gebt mir, was ich
brauche, und ich kann Euch eine Schachtel bauen, die große Unwetter
enthält, bis sie geöffnet wird, oder eine Flöte, die tausend Tiere
gleichzeitig gehorchen lässt. Es gibt vieles, was wir vom niederen
Pfad erreichen können, das häufig von der Versammlung übersehen
wird … Was soll dieses Ding für Euch tun?«
»Ich brauche etwas, das jede deutliche Manifestation von
Nekromantie erkennt, wie zum Beispiel das Stehlen einer Seele oder
die Belebung von Toten.«
Der alte Mann schwieg einige Zeit, dann sagte er: »Schwierig. Dies
sind subtile Manifestationen, die sich schwer entdecken lassen, vor
allem, wenn Ihr von einem einzelnen Leben sprecht, das genommen
wird, oder von einer einzigen belebten Leiche.«
»Ist es dennoch durchführbar?«
Sinboya dachte nach. Schließlich sagte er: »Selbstverständlich
lässt es sich machen, aber es wird einige Zeit dauern, und ich
brauche Hilfe.«
Pug stand auf. »Ich werde dafür sorgen, dass sich jemand innerhalb
eines Tages mit Euch in Verbindung setzt und Euch alles liefert,
was Ihr braucht. Legt den Preis für Eure Arbeit fest, und Ihr
werdet belohnt werden. Der Mann, den ich suche, ist vielleicht ein
Vorbote der größten Gefahr, die dem Kaiserreich in seiner langen
Geschichte drohte.«
Der alte Mann lachte leise. »Ich will Euch nicht den Respekt
verweigern, mein alter Freund, aber in unserer Geschichte gab es
viele große Gefahren.«
Pug beugte sich näher zu ihm. »Das weiß ich, denn wir vom erhabenen
Pfad studieren die Geschichte des Kaiserreichs als Teil unserer
Ausbildung. Aber ich übertreibe nicht, Sinboya. Dies könnte die
Freilassung des Fressers der Seelen bedeuten.«
Der alte Mann blieb schweigend sitzen, nachdem sein Gast gegangen
war. Der Fresser der Seelen war ein Wesen von außergewöhnlicher
Macht, einer der grundlegenden Mythen der Tsurani-Religion. In den
Tempeln stand geschrieben, dass in den letzten Tagen vor der
Vernichtung der Welt von Kelewan ein Wesen, das als der Fresser der
Seelen bekannt war, erscheinen und alle Unwürdigen ernten würde,
bevor die Götter mit ihrem letzten Krieg im Himmel
begannen.
Als die Tür sich hinter Pug schloss, befiel Sinboya das unerwartete
Bedürfnis, zum Tempel von Chochocan, dem Guten Gott, zu gehen, um
dort zu beten und ein Opfer zu bringen, ein Impuls, den er fünfzig
Jahre lang nicht mehr verspürt hatte.
Als Pug Sinboyas bescheidenes Heim verließ, befiel ihn ein seltsames Gefühl der Vertrautheit. Er zögerte und sah sich schnell um, aber nachdem er im Dunkeln nichts Falsches bemerkte, eilte er weiter.
Er hatte einen Spalt an einem verlassenen Ort der Insel des Zauberers geschaffen, der zu einer Stelle nahe der Stadt der Ebene führte, wo sich vor nun beinahe einem Jahrhundert der ursprüngliche Spalt der Tsurani nach Midkemia befunden hatte. Dann hatte er einen Trick angewandt, mit dem er Jahre zuvor die Eldar unter der Polareiskappe von Kelewan erreichen konnte: Er hatte sich einfach jeweils so weit transportiert, wie er sehen konnte, eine Methode, die hin und wieder mühsam war, aber immer erfolgreich.
Er brauchte allerdings keinen solchen Trick, um nach Midkemia zurückzukehren, nur einen verlassenen Ort, von dem aus er unentdeckt aufbrechen konnte. Er bewegte sich schnell weiter über die dunkle Straße und suchte nach einer Gasse, in die er verschwinden konnte.
Eine Gestalt erschien aus tiefem Schatten hinter einer Ecke und sah Pug hinterher. Der untersetzte Mann im schwarzen Gewand wartete eine Minute, dann seufzte er. »Was hast du in diesem kleinen Haus gemacht, Pug?«, flüsterte er. »Nun, ich sollte es wohl lieber herausfinden.« Der Mann ging entschlossen weiter und benutzte einen langen Stab, um ein wenig von seinem Gewicht aufzufangen, wenn er sein rechtes Bein benutzte. Er hatte sich eine Weile zuvor das Knie verletzt, und der Gehstab half ihm.
Ohne anzuklopfen schob er die Tür des kleinen Hauses auf und ging hinein.Sechs
Beim Ehrlichen John
Pug zog sich zurück.
Er konnte die Karawane sehen, die den Gang der Welten entlangmarschierte, und wusste aus Erfahrung, dass hier alles möglich war. Der Gang war ein großer Durchgangsbereich zwischen Planeten, ein Ort, an dem sich ein sterblicher Mensch zwischen den Welten bewegen konnte, wenn er den Weg kannte und über die notwendigen Fähigkeiten oder die Macht verfügte, um zu überleben. Pug warf einen Blick auf die Türen, die ihm am nächsten lagen, aber keine bot ihm einen passenden Platz, zu dem er verschwinden konnte. Zwei führten an Orte, von denen er wusste, dass sie dank ihrer für Menschen giftigen Atmosphäre und zerschmetternden Schwerkraft der menschlichen Existenz abträglich waren, und durch die anderen gelangte man zu sehr öffentlichen Aufbruchsorten. Leider fehlten ihm die Mittel, die örtliche Zeit vorherzusagen, denn an manchen Orten war es keine gute Idee, mittags auf dem öffentlichen Platz zu erscheinen.
Ihm blieb nichts anderes übrig, als stehen zu bleiben, wo er war, denn die Wachen hatten ihn bereits entdeckt und eilten vorwärts, die Waffen gezogen, falls er eine Gefahr darstellte – und er würde tatsächlich gefährlich sein, wenn sie ihm Grund gaben.
Die Wachen waren Menschen oder sahen zumindest aus der Ferne so aus, und sie blieben etwa auf halbem Weg zwischen Pug und dem ersten Wagen stehen, der von etwas gezogen wurde, das ähnlich wie ein lila Needra aussah, dieses sechsbeinige Lasttier, das Pug von seinen Jahren auf Kelewan kannte. Vier Wachen waren in schlichte graue Uniformen gekleidet, mit kleinen Turbanen in der gleichen Farbe. Ihre einzigen Rüstungsteile waren goldfarbene Brustharnische. Zwei Wachen hatten eine Art Projektilwaffe dabei, wie Pug annahm, denn sie zeigten mit langen zylindrischen Röhren, die auf Schulterkolben montiert waren, auf ihn.
Pug wich nicht zurück.
Nachdem sich einen Moment keine der beiden Seiten gerührt hatte,
erschien ein kleiner Mann in hellblauem Gewand und mit weißem
Turban und stellte sich hinter die Wachen. Er sah Pug an, dann rief
er ihm eine Frage zu.
Pug verstand die Sprache nicht. Der Gang der Welten hatte offenbar
Türen zu allen Planeten im Universum, oder zumindest lautete so die
Theorie. Niemand hatte je das Ende des Gangs gefunden, und man
hörte beim Ehrlichen John immer wieder Neuigkeiten von neuen
Planeten, die jemand gesehen hatte. Als Ergebnis konnte man hier
auf Angehörige von Hunderttausenden von Nationen stoßen, die alle
unterschiedliche Sprachen sprachen.
Es gab im Grunde drei Arten von Individuen, denen man im Gang der
Welten begegnete: Bewohnern des Gangs, Reisenden und den
Verlorenen. Bei Letzteren handelte es sich um unglückliche Seelen,
die irgendwie auf ihren Heimatwelten in einen Eingang zum Gang
geraten waren und keine Ahnung hatten, was ihnen zustieß oder wie
sie zurückkehren sollten. Häufig wurden sie Opfer der
beutegierigeren Bewohner des Gangs. Die meisten, die sich hier
bewegten, waren wie Pug Reisende: Sie benutzten den Gang nur, um
schnell eine große Entfernung hinter sich zu bringen. Aber es hatte
sich auch eine Kultur innerhalb des Gangs herausgebildet, getragen
von denen, die sich entschieden hatten, hierzubleiben. Das waren
nicht nur Menschen, sondern alle möglichen Arten intelligenter
Spezies, und sie hatten, wenn schon keine Regeln, so doch
Konventionen entwickelt.
Eine davon war die Handelssprache. Pug beherrschte diese Sprache
recht gut, also antwortete er darin: »Könntet Ihr diese Frage bitte
noch einmal wiederholen?«
Der kleine Mann starrte einen Moment einen anderen an, der oben auf
dem ersten Wagen saß, dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder
Pug zu. »Ich fragte«, begann er in der Handelssprache, »wohin Ihr
geht.«
Pug zeigte voraus. »Dorthin.«
Der kleine Mann wirkte verdutzt, dann fragte er: »Und woher kommt
Ihr?«
Pug zeigte mit der rechten Hand über die linke Schulter. »Von
dort.«
»Und was wollt Ihr?«, fragte der kleine Mann.
Pug hatte langsam genug von diesem Austausch. Er war nur fünf Türen
vom nächsten Eingang zum Ehrlichen John entfernt und wollte sich
jetzt wirklich wieder auf den Weg machen. Er tat sein Bestes, um zu
verhindern, dass man ihm seine Gereiztheit anmerkte, und sagte:
»Mich um meine eigenen Dinge kümmern.«
»Ihr seid allein im Gang unterwegs, aber ich sehe keine Waffen an
Euch. Ihr seid entweder ein Mann von großer Macht oder ein
Dummkopf.«
Pug trat vor, und die Waffen der Wachen hoben sich leicht. »Ich
brauche keine Waffen. Habt Ihr vor, mir den Durchgang zu
verweigern?«
»Mein Herr möchte nur dafür sorgen, dass wir uns mit dem geringsten
Maß an Schwierigkeiten untereinander bewegen«, antwortete der
kleine Mann mit einem Grinsen, das seine Zähne zeigte.
Pug nickte. Er zeigte schräg über seine Brust und sagte: »Dann geht
dort entlang, und ich gehe hier entlang.«
»Woher wissen wir, dass Ihr Euch nicht umdrehen und uns angreifen
werdet, sobald wir Euch durchgelassen haben?«
Pug seufzte gereizt. »Das reicht jetzt.« Er fuchtelte mit der Hand,
und ein Flirren, das in der Luft sichtbar war, bewegte sich vor und
warf die sechs Wachen und den kleinen Mann um. Pug setzte dazu an,
an ihnen vorbeizugehen, als eine der Wachen aufsprang, ihr Schwert
zog und damit nach ihm schlug. Pug hob die Hand, und das Schwert
traf auf eine unsichtbare Barriere, die dem Arm des Wächters einen
Schock versetzte, als hätte er auf Eisen geschlagen.
Einer der Männer zeigte mit einem Röhrengerät auf ihn und löste
einen Mechanismus aus, was ein schnell größer werdendes Netz auf
Pug zufliegen ließ. Pug hatte ein Geschoss erwartet, und das Netz
überraschte ihn. Plötzlich gefangen, musste er lange genug
innehalten, dass die anderen Wachen ihn erreichten. Er schloss die
Augen und benutzte die Transportfähigkeit, die Miranda ihn gelehrt
hatte, verbunden mit dem, was er vor Jahren von den Erhabenen der
Tsurani gelernt hatte, und wählte einen Platz auf dem Boden ein
Dutzend Fuß weiter den Gang entlang. In dem einen Moment war er
noch ins Netz verstrickt, und ein halbes Dutzend Wachen versuchte,
ihn zu Boden zu ziehen, im nächsten befand er sich zwölf Schritte
entfernt und betrachtete einen Moment lang die verwirrten
Männer.
Dann wandte er sich dem offensichtlichen Karawanenmeister zu, einem
üppig gekleideten dicken Mann, der oben auf dem ersten Wagen saß
und nun erstaunt blinzelte, als Pug auf ihn zukam und sagte: »Wenn
Ihr lieber wollt, dass ich Euch zu qualmender Asche verbrenne, kann
ich auch das tun.«
»Nein!«, rief der Mann und hob unterwürfig die Hände. »Fügt uns
keinen Schaden zu, Fremder!«
»Euch Schaden zufügen?«, fragte Pug entnervt. »Ich versuche nur, in
diese Richtung zu gehen.« Er zeigte dorthin. »Wo liegt das
Problem?«
Der Karawanenmeister sah, dass der fremde Mann seinen Angriff nicht
fortsetzte, und senkte die Hände. »Meine Leute haben vielleicht
übereilt gehandelt. Ich werde meinen Bevollmächtigten dafür tadeln.
Er suchte vielleicht einen weiteren Handelsgegenstand und hielt
Euch für wertvoll.«
Trocken antwortete Pug: »Mag sein.« Er schaute die Karawane entlang
und sah ein weiteres Dutzend Wagen und eine Reihe von Individuen,
die ihnen folgten. »Seid Ihr Sklavenhändler?«
»Nun, in gewissem Sinne, vielleicht, könnte man sagen … ja.« Er
richtete die Handflächen nach oben und spreizte die Finger, dann
sagte er: »Aber das ist nur ein winziges Nebengeschäft, vielleicht
die Quelle eines kleinen Einkommens, und nicht mein
Hauptgeschäftsziel.«
»Und das wäre?«, fragte Pug. Er konnte Sklavenhändler nicht
ausstehen, da er selbst vier Jahre als Sklave auf der Welt der
Tsurani gelebt hatte, bevor man seine magischen Fähigkeiten
entdeckte. Aber es gab ein ungeschriebenes Gesetz im Gang, dass man
niemandem ohne Grund Ärger machte. Gut, er war angegriffen worden,
aber das war von einem Sklavenhändler, der ein einzelnes Individuum
im Gang entdeckte, nicht anders zu erwarten.
»Ich handle mit Gegenständen hohen Alters«, erklärte der Mann, »mit
einzigartigen magischen Geräten und Reliquien. Vielleicht sucht Ihr
nach etwas in der Art?«
»Ein andermal. Ich muss jetzt gehen«, sagte Pug. Er betrachtete den
dicken Kaufmann nachdenklich. »Aber Ihr könntet mir vielleicht
Informationen verkaufen.«
Der Mann lächelte, legte die rechte Hand auf sein Herz, verbeugte
sich und sagte: »Das könnte sein.«
»Habt Ihr je mit jemandem Handel getrieben, der den Weg zur zweiten
Ebene kannte?«
Das Gesicht des Mannes wurde zu einer Maske der Verwirrung.
»Vielleicht beherrsche ich die Handelssprache nicht gut genug,
Fremder. Die zweite Ebene?«
»Der zweite Kreis. Das zweite Reich. Das, was unter uns
liegt.«
Der Mann riss die Augen auf. »Ihr habt den Verstand verloren, aber
wenn eine solche Person tatsächlich existiert, werdet Ihr sie bei
John ohne Tadel finden. Fragt nach Vordam von den
Ipiliac.«
Pug verbeugte sich leicht. »Ich war ohnehin auf dem Weg zu John,
aber ich danke Euch für den Namen.«
»Vielleicht werden wir einander wieder begegnen …«
»Pug von Midkemia. Auch Milamber von Kelewan genannt.«
»Ich bin Tosan Baeda von den Dubengee. Vielleicht habt Ihr von mir
gehört?«
»Tut mir leid«, sagte Pug, als er weiterging. »Ich wünsche Euch
guten Handel, Tosan Baeda von den Dubengee.«
»Gute Reise, Pug von Midkemia, auch Milamber von Kelewan genannt«,
erwiderte der Kaufmann.
Pug achtete kaum auf die Wagen und zwang sich, die Sklaven zu
ignorieren. Mindestens fünfzig waren aneinandergekettet und sahen
ziemlich elend aus. Die meisten waren Menschen, der Rest
menschenähnlich genug, um sich im Gleichschritt mit ihnen zu
bewegen. Pug hätte sie befreien können, aber um welchen Preis für
seine knappe Zeit? Und was würde er mit ihnen anfangen? Die meisten
wussten sicher nur den lokalen Namen für ihren Planeten, und
wahrscheinlich hatte keiner die geringste Idee, wo sich die Tür zu
seiner Heimatwelt befand. Pug hatte schon vor langem gelernt, dass
es das Beste war, wenn man den Gang betrat, alle ethischen und
moralischen Bedenken zu Hause zu lassen.
Er erreichte ungestört den nächsten Eingang zum Ehrlichen John. Er
zögerte einen Augenblick, denn ganz gleich, wie oft er dies zuvor
getan hatte, das Verlassen des Hallenbodens zwischen Türen
verursachte immer eine Sekunde von Beinahe-Panik. Er erkannte die
Schriftzeichen zu beiden Seiten über den Türen und wusste, dass er
sich am richtigen Platz befand. Dennoch, niemand wusste, was
geschah, wenn man zwischen Türen trat – niemand hatte es je getan
und war zurückgekehrt, um darüber zu berichten. Er ignorierte das
plötzliche Stechen in seinem Magen und bewegte die Füße, als ginge
er eine Treppe hinunter.
Plötzlich befand er sich in einem Eingang, einem kleinen Raum mit
einer falschen Tür dahinter. Er wusste, die Tür war nur auf die
Wand gemalt, aber sie beruhigte einen Teil der Gäste beim Ehrlichen
John.
Ein großes Geschöpf, etwa neun Fuß hoch, blickte mit riesigen
blauen Augen auf ihn herab. Es war mit weißem Fell bedeckt und
erinnerte ein wenig an einen Affen, bis auf das Gesicht, das eher
hündisch wirkte. Schwarze Flecken auf dem Fell hätten das Geschöpf
beinahe fröhlich aussehen lassen, wären da nicht diese riesigen
Klauen und Zähne gewesen … »Waffen?«, fragte der
Coropabaner.
»Eine«, sagte Pug und zeigte den Dolch vor, den er sich ins Gewand
gesteckt hatte. Er reichte ihn dem Geschöpf, und es bedeutete Pug,
den Schankraum zu betreten. Pug ging hinein.
Die Schänke war riesig: mehr als zweihundert Schritt breit und eine
Viertelmeile tief. An der rechten Wand gab es eine lange Theke mit
zwanzig Barmännern. Zwei Galerien, eine über der anderen, hingen
über den drei anderen Seiten. Die Galerien waren voll mit Stühlen
und Tischen und boten denen, die oben saßen, einen guten Blick auf
das Geschehen am Boden.
Dort wurde jedes vorstellbare Glücksspiel betrieben, von
Kartenspielen über Würfel bis zu Spielen, für die es Räder und
Zahlen brauchte, und es gab auch eine kleine Sandgrube für Duelle.
Die Gäste gehörten allen Völkern und Spezies an, denen Pug je
begegnet war, und vielen, die ihm vollkommen neu vorkamen. Die
meisten waren Zweifüßler, aber einige hatten auch mehr Glieder,
darunter ein Geschöpf, das seltsam nach einem mannsgroßen, dünnen
Drachen mit Menschenhänden an den Enden seiner Flügelspitzen
aussah. Kellner und Kellnerinnen eilten mit Tabletts, auf denen
Töpfe, Teller, Becher, Eimer und Schalen standen, durch das
Gedränge.
Pug begann, sich selbst durch die Menge zu schieben, und fand den
Besitzer des Gasthauses an seinem üblichen Tisch. »John von der
unhinterfragbaren Ethik«, wie er auf dem Planeten Cynosure genannt
wurde, saß an einem Tisch fast am Ende der Theke, was ihm einen
guten Blick auf den Eingang gewährte. Als er Pug bemerkte, stand
John auf. Sein Gesicht war durchschnittlich – braune Augen, eine
gewöhnliche Nase und das Lächeln eines Spielers. Er trug einen
Anzug aus schwarzem Tuch. Die Hose hörte ohne Aufschläge oben an
glänzend schwarzen Stiefeln auf, die sehr spitz zuliefen. Die Jacke
stand offen und zeigte ein weißes Rüschenhemd, verschlossen mit
Perlenknöpfen, und einen spitzen Kragen, geschmückt mit einem lila
Halstuch. Außerdem trug er einen breitkrempigen weißen Hut mit
einem schimmernden roten Seidenband.
Er streckte die Hand aus. »Pug! Stets ein Vergnügen!« Er warf einen
Blick hinter ihn. »Miranda ist nicht bei Euch?« Sie schüttelten
sich die Hand, und der Wirt deutete auf einen Stuhl.
»Nein«, sagte Pug und ließ sich auf dem angebotenen Platz nieder.
»Sie hat im Augenblick andere Dinge, die sie
beschäftigen.«
»Es ist eine Weile her.«
»Wie immer«, teilte Pug den Scherz. Zeit verging nicht beim
Ehrlichen John. Denen, die im Gang lebten, wurden irgendwie die
Verwüstungen der Jahre erspart. An diesem Ort ohne Tage, Monate
oder Jahre wurde die Zeit in Stunden gemessen, eine nach der
anderen und endlos. Pug war sich sicher, dass John die Möglichkeit
hatte, ihm genau zu sagen, wie viele Stunden seit dem letzten
Besuch des Magiers vergangen waren, aber er nahm auch an, dass das
nichts mit dem Gedächtnis des Mannes zu tun hatte.
»Nicht, dass es mich nicht freuen würde, Euch wiederzusehen, aber
ich nehme an, Euer Besuch hat einen Grund. Wie kann ich Euch
dienen?«
»Ich suche einen Führer.«
John nickte. »Es gibt diverse erfahrene Führer in meinem
Etablissement, und noch erheblich mehr, die schnell hier sein
könnten, wenn ich sie rufe, aber welcher Eure Bedürfnisse am besten
befriedigt, lässt sich nur durch eine Frage entscheiden: Wo wollt
Ihr hin?«
»Zum Heimatplaneten der Dasati im zweiten Reich.«
John verfügte über alterslose Erfahrung. Er hatte in seinen Jahren
im Gang beinahe alles gehört, was man sich vorstellen kann. Aber
nun war er zum ersten Mal sprachlos.
Miranda ging neben einem älteren Mann in schwarzer Robe durch den
Garten an der Südseite der großen Versammlung der Magier der
Tsurani. Es war ein wunderschöner Nachmittag, und eine leichte
Brise wehte von den fernen Bergen im Norden und machte den für
gewöhnlich heißen Tsurani-Tag angenehm.
Das massive Gebäude der Versammlung dominierte die Insel, aber der
Strand auf der anderen Seeseite war unberührt und bot einen
beruhigenden Anblick für Mirandas beunruhigten Zustand. Sie hasste
es, wenn Pug nicht da war.
Der ältere Magier sagte: »So froh ich darüber bin, Euch zu sehen,
Miranda, müsst Ihr doch verstehen, dass die meisten meiner Brüder
immer noch …«
»Altmodisch sind?«
»Ich wollte ›Traditionalisten‹ sagen.«
»Mit anderen Worten, es gefällt ihnen nicht, sich von einer Frau
einen guten Rat geben zu lassen.«
»Etwas in dieser Richtung«, sagte Alenca, das oberste Mitglied der
Versammlung der Magier. »Wir Tsurani haben im letzten Jahrhundert
viele Veränderungen erlebt, die selbstverständlich mit unserer
ersten Begegnung mit Eurer Heimatwelt begannen, und Euer Mann hat
uns noch mehr auferlegt, aber wir sind immer noch ein engstirniger
Haufen.« Das Gesicht des alten Mannes war eine Ansammlung von
Zerklüftungen, Falten und Altersflecken, und nur das dünnste Echo
von weißem Haar wuchs noch auf seinem Kopf, aber seine Augen waren
von lebhaftem Blau und glitzerten, wenn er sprach. Miranda mochte
ihn sehr. »Die Sache mit dem Talnoy ist zu so etwas wie einem
Streit zwischen verschiedenen Gruppen geworden, und selbst am
kaiserlichen Thron in der Heiligen Stadt hat man davon
gehört.«
»Jemand hat geplaudert?« Miranda zog eine Braue hoch.
Der alte Magier machte eine wegwerfende Geste. »Wenn sich etwas so
Gefährliches wie der Talnoy auf der Insel befindet, glaubt Ihr doch
nicht wirklich, dass es lange ein Geheimnis vor dem Kaiser bleibt,
oder? Vergesst nicht, dass unsere erste Pflicht immer noch der
Dienst am Kaiserreich ist.«
Miranda blickte durch den Garten auf das ruhige Wasser des Sees
hinaus. »Nein, ich bin wirklich nicht überrascht. Ich bin hier, um
zu fragen, ob Ihr Fortschritte gemacht habt.«
»Dann nehme ich an, dass Milamber und Magnus geschäftlich unterwegs
sind und davon abgehalten werden, selbst hier zu
erscheinen?«
Trocken sagte Miranda. »Ihr habt vergessen, Nakor zu
erwähnen.«
Der alte Mann lachte. »Dieser Bursche amüsiert mich ungemein.« Er
holte tief Luft. »Ich glaube, er weiß mehr über den erhabenen Pfad
als ich, obwohl er darauf besteht, dass es so etwas wie Magie nicht
gibt und wir alle nur Tricks ausüben.«
»Nakor ist eine stetige Quelle der Heiterkeit, ja, aber lasst uns
zum Thema zurückkehren. Hat der Kaiser etwas über den Talnoy
gesagt?«
»Nur dass er ihn auf unserer Welt nicht haben will.«
Miranda verschränkte die Arme, obwohl der Wind vom See her warm
war. »Hat er das zu einem Befehl gemacht?«
»Wäre dies der Fall, dann hätten wir Euch den Talnoy bereits
zurückgegeben«, erwiderte Alenca. Er rieb sich die Hände, als
erwartete er freudig eine neue Aufgabe. »Viele unserer Brüder sind
überzeugt, dass wir einen Stillstand erreicht haben, und die
Mehrung von zufälligen Spalten macht uns Sorgen. Einer von uns ist
bereits als Ergebnis eines solchen gestorben.«
Miranda nickte. »Pug hat mir erzählt, dass Macalathana umgekommen
ist. Aber ich weiß nicht genau, was geschah.«
»Ein kleines Geschöpf kam hindurch, und wenn ich es recht verstehe,
explodierte es! Wenn Ihr das glauben könnt.«
»Ich kann eine Menge glauben.«
»Wyntakata, der bei ihm war, war so erschüttert, dass er sich
beinahe einen Monat auf seinen Landsitz in Ambolena zurückzog,
bevor er zu uns zurückkehrte.« Alenca senkte die Stimme und fügte
hinzu: »Und er ist dennoch nicht wieder ganz der Alte, wenn Ihr
mich fragt.«
»Wird die Versammlung verlangen, dass wir den Talnoy
zurückholen?«
»Wenn Ihr keine Möglichkeit finden könnt, die verdammten Spalte
aufzuhalten, ja«, sagte Alenca.
Miranda schwieg einen Augenblick. Sie hatte Kelewan nur als
Besucherin kennen gelernt und mochte es nicht besonders: Die Männer
waren zu starrsinnig, was ihre Haltung zu Frauen anging – besonders
jenen, die Magie benutzten –, das Wetter war zu heiß, und die
Städte waren überfüllt. Sie blickte auf den fernen Strand und die
majestätischen Berggipfel – den Hohen Wall – dahinter. Andererseits
musste sie zugeben, dass die Landschaft hinreißend war. Nach einem
Moment fragte sie: »Wie lange befand sich der Talnoy hier, bis Euch
die ersten Berichte von den Spalten erreichten?«
»Ich glaube mehrere Monate.«
»Dann sollten wir den Talnoy wieder zur Insel des Zauberers
bringen«, sagte Miranda.
»Warum?«, fragte Alenca.
»Weil die Spalte dem Talnoy entweder aus einem natürlichen Grund zu
dieser Welt folgten oder eine Intelligenz dahintersteckt, die sie
manipuliert. Wenn eine Intelligenz dahintersteckt, könnte es Monate
dauern, bis sie den Talnoy auf Midkemia wiederfindet.« Sie warf
Alenca einen Blick zu. »Tatsächlich frage ich mich, ob wir ihn
nicht einfach zu einer unbewohnten Welt bringen sollten, die Pug
kennt, um ihn dort weiterzustudieren.«
Da dies nach einer rhetorischen Frage klang, schwieg Alenca
dazu.
»Ihr sagtet, eins Eurer Mitglieder sei von einem explodierenden
Geschöpf getötet worden. Pug war ein wenig vage, was die
Einzelheiten anging. Was könnt Ihr mir sagen?«
Hinter ihnen erklang eine Stimme. »Vielleicht sollte ich es besser
erzählen, Miranda.«
Miranda drehte sich um und sah einen untersetzten Mann in einer
schwarzen Robe, der einen Stab trug – ungewöhnlich für einen
Erhabenen der Tsurani – und durch den Garten auf sie zutrat. Er
hatte offenbar einen Teil des Gesprächs belauscht, während er näher
kam. Miranda kannte ihn nicht, aber der Mann sagte: »Es ist schön,
Euch zu sehen.«
»Sind wir uns schon einmal begegnet?«, fragte sie. Es gehörte nicht
zu ihren Gewohnheiten, die Ehrenbezeichnung »Erhabener« zu
benutzen, wie es in dieser Gesellschaft üblich war, da sie
ebenfalls eine mächtige Magiebenutzerin war.
Der Mann zögerte nur eine Sekunde, dann lächelte er. Er trug sein
von Grau durchzogenes schwarzes Haar ungewöhnlich lang, beinahe bis
auf die Schultern, und sein Gesicht war glatt rasiert wie bei den
meisten Tsurani. »Nein, ich glaube, das war noch nicht der Fall,
aber Euer Ruf eilt Euch selbstverständlich voraus. Vielleicht wäre
es besser, wenn ich gesagt hätte: ›Es ist schön, Euch kennen zu
lernen.‹« Er nickte ihr ehrerbietig zu. »Ich bin Wyntakata. Ich
wurde Zeuge von Macalathanas Tod.«
»Ich hielte es in der Tat für eine große Höflichkeit Eurerseits,
wenn Ihr mir erzählen würdet, was geschehen ist«, sagte
Miranda.
»Wir hörten von einem Spalt, der von einem Needra-Hirten eine
Halbtagesreise nordöstlich der Stadt Jamar gesichtet worden war,
inmitten des weiten Graslands der Provinz Hokani. Als wir dort
eintrafen, fanden wir einen Spalt nicht größer als zwei
Handspannen, der vielleicht eine halbe Handspanne über dem Boden
schwebte. Ein kleines Geschöpf stand reglos davor. Ich riet zur
Vorsicht, aber Macalathana wollte es unbedingt untersuchen; ich
nehme an, er glaubte, dass es wegen seiner geringen Größe keine
besondere Gefahr darstellte. Als er vor dem Geschöpf stand, brach
es in eine gewaltige Explosion von Licht und Flammen aus und
verbrannte einen großen Teil des Grases vor sich. Der Spalt war
verschwunden. Ich kehrte sofort mit den ernsten Nachrichten zur
Versammlung zurück, und andere begaben sich an den Schauplatz und
holten Macalathanas Leiche.«
»Hattet Ihr auch nur die geringste Gelegenheit, das Geschöpf näher
zu betrachten?«, fragte Miranda.
»Nein, so leid es mir tut. Ich sah es nur einen Augenblick, lange
genug, um zu erkennen, dass es klein war, auf zwei Beinen stand,
keine Kleidung trug und keine Gegenstände bei sich hatte. Es
handelte sich vielleicht um ein wildes Tier, das von der anderen
Seite durch den Spalt gekommen war.«
»Das nehmen wir derzeit jedenfalls an«, sagte Alenca. »Es sei denn,
diese Dasati neigen dazu, nackt zu reisen«, fügte er mit leisem
Lachen hinzu.
»Wir wissen nur wenig über sie.« Miranda ignorierte das Lachen des
alten Magiers. »Aber ich halte das für sehr unwahrscheinlich.«
Wieder an Wyntakata gewandt fügte sie hinzu: »Alenca und ich
sprachen gerade über die Möglichkeit, den Talnoy zurück zur Insel
des Zauberers zu bringen.«
»Oh, das halte ich für verfrüht«, sagte Wyntakata. »Tatsächlich?«,
fragte Miranda.
»Sicher, wir haben von einigen Spalten erfahren, aber ich habe
persönlich mehr von diesen Berichten studiert als alle anderen hier
–«
»Das ist wahr«, warf Alenca ein.
»- und ich kann mit einiger Sicherheit erklären, dass die meisten
Berichte fehlerhaft waren – was die Leute gesehen haben, war nicht
magischer als eine Wetteränderung oder der Drachen eines Kindes!
Der einzige zusätzliche Spalt, den ich finden konnte, maß nicht
mehr als die Größe meiner Faust, und er bestand nur noch ein paar
Minuten, nachdem ich eingetroffen war. Ich bin überzeugt, dass
diese kleinen Spalte natürliche Nebenprodukte der Anwesenheit des
Talnoy sind und dass keine Intelligenz dahintersteht und sie auch
nicht von irgendwem benutzt werden, der einen Weg nach Kelewan
sucht. Ich glaube, wir können Euch bald erheblich mehr über diesen
Talnoy sagen, und unsere Untersuchungen jetzt zu beenden, wäre eine
große Verschwendung von Zeit, die wir bereits investiert
haben.«
»Ich werde meinem Mann davon berichten«, sagte Miranda. Mit einem
Lächeln zu Wyntakata fügte sie hinzu: »Ich muss mich von Euch
verabschieden und nach Hause zurückkehren.« Dann wandte sie sich an
Alenca. »Würdet Ihr mich bis zum Spalt begleiten?«
Der alte Mann nickte, und Wyntakata zögerte einen Moment, bevor er
sich knapp verbeugte und in eine andere Richtung ging. Als sie den
Garten verließen, sagte Miranda: »Wyntakata hat zumindest für mein
Ohr einen seltsamen Akzent.«
»Er verbrachte seine Kindheit in der Provinz Dustari, auf der
anderen Seite des Blutigen Meeres. Sie neigen dazu, einige Vokale
zu schleifen, nicht wahr?«
Miranda lächelte. »Ich habe noch eine Frage.«
»Was ist, meine Liebe?«
»Sind Euch irgendwelche Gerüchte zu Ohren gekommen, dass jemand
irgendwo im Kaiserreich Nekromantie betreibt?«
Der alte Magier blieb erschrocken stehen. »Das ist verboten! Es ist
die einzige Art von Zauberei, die selbst in der alten Zeit, als
unser Wort noch Gesetz war, einen Erhabenen zu Fall bringen konnte.
Jede Spur davon zog die Todesstrafe nach sich.« Er wandte sich
wieder dem Weg zu, und sie gingen weiter. »Warum?«
»Pug hat Grund anzunehmen, dass vor kurzem jemand aus unserer Welt
ins Kaiserreich gekommen ist, ein Nekromant von gewaltiger Macht.
Er stellt eine große Gefahr dar, und er könnte sich überall
verstecken. Aber es liegt in seinem Wesen, dass er diese Art von
Zauberei nicht allzu lange meiden kann.«
»Ich werde Erkundigungen einziehen.«
»Es wäre mir lieber, wenn Ihr das nicht tut«, sagte Miranda. »Pug
macht sich aus vielen Gründen Sorgen, von denen er Euch ein
andermal berichten wird. Aber er vertraut Euch, und Euch allein.
Ihr müsst noch etwas wissen: Diese Person – Leso Varen – verfügt
über die Macht, den Körper eines beliebigen Menschen zu übernehmen.
Wir verstehen die Mechanismen, mit denen er dies tut, noch nicht,
nur, dass sie Nekromantie erfordern und viele viele Tode, je
schrecklicher, desto besser für seine dunklen Künste. Wir glauben,
er könnte hier festsitzen. Und wenn das der Fall ist, müssen wir
ihn finden und ihn vernichten.«
»Ihr glaubt, er könnte hier sein?« Alenca sah sich um, als
fürchtete er plötzlich, dass jemand sie beobachtete.
Miranda erkannte, dass sie einen Fehler gemacht hatte. »Vielleicht
auch nicht. Seine Wahl von Wirten scheint eher zufällig zu sein,
aber beim letzten Mal maskierte er sich als Mann von großer Macht.
Ich bitte Euch nur, dass Ihr wegen dieser Sorge Ruhe bewahrt, bis
Pug zurückkehrt, um ausführlich mit Euch darüber zu sprechen. Ist
das möglich?«
»Selbstverständlich«, antwortete er, als sie das große Gebäude der
Akademie betraten. »Wir werden unsere Arbeit an dem Talnoy
fortsetzen – und bitte sagt Nakor, wenn Ihr ihn das nächste Mal
seht, dass wir immer noch auf seine Idee warten, dieses Wesen ohne
den Ring zu beherrschen, dessen Tragen zum Wahnsinn führt.« Er
tätschelte ihren Arm und flüsterte dramatisch: »Ich lasse es Euch
wissen, wenn ich irgendwelche Gerüchte höre … über diese andere
Sache.«
Miranda gestattete ihm die Vertraulichkeit. Sie mochte die
Erhabenen der Tsurani nicht besonders, aber für Alenca machte sie
eine Ausnahme.
Sie betraten den Raum, der für den Spalt nach Midkemia
bereitgestellt worden war. Pug hatte die Spaltmaschine der Tsurani
bearbeitet, sodass sie nun ein halbes Dutzend Ziele in Midkemia
auswählen konnte und nicht unbedingt nach Stardock führen musste.
Miranda wählte die Insel des Zauberers, und die beiden Magier, die
Dienst an der Maschine taten, begannen rasch mit der
Beschwörung.
Miranda seufzte. Noch vor ein paar kurzen Jahren
– jedenfalls von ihrer Warte aus betrachtet – war Spaltmagie
überwiegend unbekannt gewesen. Die Studien, die ihr Mann in den
vier Jahren durchgeführt hatte, als er in diesem
Versammlungsgebäude lebte, und seine Arbeit in den Jahrzehnten
seitdem reduzierte nun ihr Staunen auf das einer Reisenden, die
nach einer öffentlichen Kutsche rief, um sich von den Docks zum
Haus am Fluss bringen zu lassen.
Nein, sie fand die Spalte an sich nicht mehr überraschend, aber ihr
blieb noch genug, worüber sie staunen konnte, zum Beispiel über
eine eindringende Horde von Kriegern aus dem zweiten Kreis der
Hölle.
Pug ging die obere Galerie beim Ehrlichen John entlang und suchte nach dem Kaufmann, dessen Namen man ihm genannt hatte. John hatte zugegeben, dass er keine Ahnung hatte, wer einen Eingang ins zweite Reich finden könnte, wie Pug diesen Kreis der Wirklichkeit nun nannte, aber er nahm an, dass es jemanden gab, der jemanden kennen würde, der seinerseits jemanden kannte, und so weiter …
Der Kaufmann hieß Vordam von den Ipiliac, ein Delecordier, den Tosan Baeda erwähnt hatte. Pug kannte Delecordier nur dem Ruf nach. Das einzig Bemerkenswerte an ihrer Welt war ihr Standort. Sie befand sich so weit vom Ehrlichen John entfernt, wie es eine zivilisierte Welt nur sein konnte, und verfügte daher über Kontakte zu abgelegeneren Planeten und Völkern, die im Gang noch immer sehr ungewöhnlich waren.
Pug fand Vordams Geschäft, und sobald er über die Schwelle des bescheidenen Ladens trat, wusste er, dass etwas nicht stimmte.
Pug hatte schon zuvor zwei Orte im Universum aufgesucht, die sich in ihm befanden, aber kein Teil davon waren. Der erste war die Ewige Stadt, ein legendärer Ort, dessen Erbauer nicht bekannt war, riesig bis zu dem Punkt, dass sie grenzenlos erschien, und ihr Garten gehörte zu der Stadt, ohne Teil von ihr zu sein. Der zweite war der Gang selbst und damit auch das Gasthaus zum Ehrlichen John.
Dieser Laden erwies sich nun als ein weiterer solcher Ort, denn er befand sich zwar innerhalb des Ehrlichen Johns, aber auch anderswo. Pug hatte gerade noch Zeit, das zu begreifen, als auch schon ein Wesen durch eine mit einem Vorhang verhängte Tür hinten im Raum auf ihn zukam. Es schien etwas zu sagen, aber Pug erkannte, dass auch dies eine Illusion war, denn es gab keine Worte, nur die Illusion davon. Magie war beim Ehrlichen John selten; sie bot einfach zu viel Potenzial für Unfug. Es gab Schutzzauber überall im Schankraum, um zu verhindern, dass jemand ohne es anzukündigen Magie benutzte. Das machte die Glücksspiele ehrlich, die Verhandlungen zwischen Kaufleuten vollkommen offen und hielt das Blutvergießen gering. Die Ausnahme bildeten Zauber, die John selbst oder andere in seinem Auftrag wirkten: einer, damit alle, die sich in seinem Etablissement aufhielten, einander verstanden (obwohl es immer ein paar Gäste aus ferneren Bereichen gab, deren Bezugsrahmen sich so sehr von den üblichen fühlenden Wesen unterschied, dass nur grundlegende oder eingeschränkte Kommunikation möglich war). Ein zweiter Zauber gab jedem eine angenehme Umgebung, obwohl unterschiedliche Völker sehr unterschiedliche Umgebungen für angenehm hielten. Der letzte war ein Verteidigungszauber, der, wie Pug annahm, großen Schaden zufügen würde, sollte jemand versuchen, John oder seine Leute anzugreifen. Hin und wieder kam es vielleicht zu einer Rauferei, aber so weit sich der älteste lebende Gast erinnern konnte, hatte es im Gang keinen ernsten Konflikt mehr gegeben.
An diesem Laden jedoch gab es etwas Magisches, etwas, das über Pugs Erfahrung hinausging, und seine Erfahrung war alles andere als eingeschränkt. Das Geschöpf wiederholte seine Frage, und Pug nickte. »Einen Augenblick bitte«, sagte er. Das Wesen sah recht menschlich aus. Es war größer, als man von einem Menschen erwarten würde, und Arme und Beine waren ein wenig länger. Das Gesicht bestand aus einer einzelnen Lippe, einer Nase darüber und zwei Augen, aber die Wangenknochen waren ausgeprägter als bei jedem Menschen, dem Pug begegnet war, und die Finger des Geschöpfs waren ungewöhnlich lang. Seine Haut zeigte eine leichte Graulilafärbung, und sein Haar war von einem üppigen Schwarz mit einem violetten Schimmer.
Pug dehnte rasch seine Wahrnehmung aus, streckte sie aus wie eine geheimnisvolle Ranke, die die Vibration des Raums berührte und den Unterschied zwischen diesem Laden und dem Rest des Gasthauses wahrnahm. Einen Augenblick kam es ihm seltsam vertraut vor. Pug strengte sich an, es zu erkennen, dann wurde es ihm plötzlich klar: Es erinnerte ihn an die Fallen, die für Tomas und ihn aufgestellt waren, vor vielen Jahrzehnten, als sie nach Macros dem Schwarzen suchten.
Pug starrte den Kaufmann an. »Ich suche Vordam
von den Ipiliac.«
Das Geschöpf, gekleidet in ein schlichtes graues Gewand mit einer
einfachen weißen Schnur um die Taille, verbeugte sich leicht und
erklärte: »Das bin ich.«
Pug schwieg einen Moment, als er die Harmonien der Vibrationen
aufnahm, die er in jedem Zoll des Ladens spürte. Und dann verstand
er. Er sah Vordam an und sagte: »Ihr seid ein Dasati!«
Todesritter
Er riss das Schwert herab.
Fünfzig gepanzerte Reiter der Sadharin stießen ei
nen Schrei aus und schlugen sich mit stählernen
Handschuhen gegen die Brustharnische. Das Brüllen
hallte von der gewölbten Decke der alten steinernen
Halle der Prüfung wider, und die Holzsitze, die um
den sandbestreuten Boden standen, vibrierten. Lord Arukes einziger
überlebender Sohn blickte
auf den Mann hinab, den er gerade getötet hatte, und
einen Moment lang suchte ihn ein seltsamer Gedanke
heim: Was für eine Verschwendung. Er
schloss kurz
die Augen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen, dann drehte er
sich langsam um, um den Jubel
entgegenzunehmen.
Valko von den Camareen, der drei ernste Schnittwunden und eine
unzählige Anzahl von blauen Flecken und kleineren Kratzern hatte,
nickte vier Mal,
einmal zu jeder Gruppe von Reitern, die über ihm an
den vier Wänden saßen. Dann sah er den Krieger an,
den er getötet hatte, und nickte abermals; eine rituelle
Anerkennung eines heftigen Kampfes. Es war knapp
gewesen.
Er warf auch einen kurzen Blick zu dem Vater des
jungen Mannes, den er getötet hatte, und sah, dass
dieser ebenfalls jubelte, wenn auch ohne wirkliche
Überzeugung. Lord Keskos zweiter Sohn lag vor
Valkos Füßen: Hätte der Junge gesiegt, dann hätten
zwei überlebende Söhne Kesko große Ehre gemacht
und ihm einen höheren Platz bei den Langradin gesichert. Sein nun
einziger anerkannter Sohn stand neben seinem Vater, und sein Jubel
war echt; Valko
hatte einen möglichen Rivalen um Keskos Gunst getötet. Dann drehte
sich Valko um und sah, wie zwei
Lakaien sein Varnin töteten, ein kastriertes männliches Tier, das
er Kodesko genannt hatte, nach der
lauten Brandung an der Landspitze von Sandos ganz
im Westen des Besitzes seines Vaters, wo Sandos ins
Heplanische Meer vorstieß. Das Varnin seines Gegners war bei dem
Kampf umgekommen, als Valkos
Schnitt eine Halsarterie durchtrennte. Tatsächlich
hatte dieser Streich Valko den Sieg geschenkt, denn
das schwächer werdende Varnin hatte die Aufmerksamkeit des Reiters
einen kurzen Augenblick abgelenkt, und Valko hatte dem Mann die
Wunde beibringen können, die schließlich den Unterschied
ausmachte.
Ein Heiler von der Halle der Behandler – ein Meister des ersten
Rangs – eilte mit seinen Helfern zu
ihm, und sie begannen, sich um Valkos Wunden zu
kümmern. Valko wusste, dass er bald vom Blutverlust das Bewusstsein
verlieren würde, wenn sie den
Blutfluss nicht stillten, aber statt Schwäche vor seinem Vater und
den versammelten Reitern der Sadharin zu zeigen, schob er den
Behandler weg und
wandte sich seinem Vater zu. Er setzte den schwarzen stählernen
Helm ab, holte tief Luft und rief: »Ich
bin Valko, Sohn von Aruke aus dem Haus der Camareen!« Er brauchte
all seine Kraft, um noch einmal
mit dem rechten Arm das Schwert über den Kopf
heben zu können, denn er hatte eine Schnittwunde
direkt unterhalb der Schulter, aber ihm gelang ein
akzeptabler Salut, bevor er das Schwert an die Seite
fallen ließ.
Sein Vater, der Herr der Camareen, stand auf und
deutete auf seinen Sohn, dann schlug er mit der behandschuhten
Faust gegen seine gepanzerte Brust.
»Dies ist mein Sohn!«, rief er laut genug, dass alle
Versammelten es hören konnten.
Wieder taten die Reiter ihre Anerkennung kund,
ein knappes, tiefes »Ha!«, und dann drehten sie sich
wie ein einziger Mann um und verbeugten sich vor
ihrem Gastgeber. Valko wusste, dass ein paar der
Vertrauenswürdigsten bleiben und mit Aruke und
seinem Haushalt essen würden, aber die anderen
machten sich auf den Rückweg zu ihren eigenen Festungen, um sich
nicht unterwegs von Rivalen oder
Gesetzlosen erwischen zu lassen.
Als seine Gedanken abzuschweifen begannen, riss
sich Valko noch einmal lange genug zusammen, um
zu rufen: »Lord Kesko, dieses Ding kann
nicht Euer
Sohn gewesen sein!«
Lord Kesko verbeugte sich vor dem Kompliment, das der Sieger ihm
machte. Er würde die Burg Camareen als Erster verlassen, denn es
lag zwar keine Schande darin, dass ein Möchtegern-Sohn im Zweikampf
getötet wurde, aber es war auch kein Grund
zur Freude.
Der Meisterbehandler flüsterte: »Sehr tapfer, junger Lord, aber
wenn wir Euch jetzt nicht die Rüstung
abnehmen, werdet Ihr bald neben dem, den Ihr getötet habt, auf dem
Verwendungstisch liegen.« Ohne
auf Erlaubnis zu warten, wies er seine Helfer entsprechend an, und
die Lederriemen und Schnallen
wurden schnell geöffnet, und die Rüstung wurde
abgenommen.
Es entging Valko nicht, dass die Behandler ihn
dabei unmerklich stützten, sodass er auf den Beinen
bleiben konnte, während sein Vater langsam zu den
Reitern ging, die ihm weitere Glückwünsche darboten. Der junge
Krieger war nach den Maßstäben seines Volkes hochgewachsen – einen
halben Kopf größer als sein Vater, der vier Zoll mehr als sechs
Fuß
maß. Sein junger Körper hatte mächtige Muskeln,
und seine Arme waren lang, was ihm eine tödliche
Reichweite mit dem Schwert verlieh, die er gegen
den kleinwüchsigeren Gegner genutzt hatte. Er sah
nach den Maßstäben seines Volkes gut aus, denn seine lange Nase war
gerade und nicht zu breit, und seine Lippen waren voll, ohne
weiblich zu wirken. Aruke blieb vor ihm stehen und sagte:
»Sechzehn
Mal haben Männer vor mir gestanden, die mein Haus
beanspruchten. Du bist erst der dritte, der die Herausforderung
überlebte. Der erste war Jastmon, der in
der Schlacht von Trikamaga starb, der zweite Dusta,
der starb, als er vor elf Jahren diese Burg verteidigte.
Es erfreut mich, dich als ihren Bruder bezeichnen zu
können.«
Valko blickte direkt in die Augen seines Vaters,
eines Mannes, den er vor einer Woche zum ersten
Mal gesehen hatte. »Ich ehre ihr Andenken.« »Wir lassen Räume für
dich vorbereiten«, sagte
Aruke, »die direkt neben meinen eigenen liegen.
Morgen wirst du deine Ausbildung als mein Erbe
beginnen. Bis dahin ruhe dich aus … mein Sohn.« »Danke, Vater.«
Valko betrachtete das Gesicht des
Mannes und konnte nichts darin erkennen, was ihn
an sein eigenes erinnerte. Valkos Gesicht war lang
und hatte keine Falten, und es war nach den Maßstäben seines Volkes
edel geschnitten, aber das Gesicht
seines Vaters war rund und voller Altersfalten, und
er hatte eine seltsame Ansammlung von Flecken
links an seiner Stirn. War es möglich, dass seine
Mutter ihn angelogen hatte?
Als hätte er seine Gedanken gelesen, fragte Aruke:
»Wie lautete der Name deiner Mutter?«
»Narueen, eine Ausführende aus Cisteen, die auf
Lord Bekars Ländereien arbeitete.«
Aruke schwieg einen Moment, dann nickte er. »Ich
erinnere mich an sie. Ich nahm sie für eine Woche,
während ich als Gast in Bekars Burg weilte.« Sein
Blick wanderte an Valko hinab, der nun nur noch einen Lendenschurz
trug, während die Behandler seine Wunden säuberten und verbanden.
»Sie hatte einen dünnen, aber ansehnlichen Körper. Deine Größe
muss
von ihrer Seite stammen. Lebt sie noch?«
»Nein, sie starb bei einer Läuterung vor vier Jahren.«
Aruke nickte. Beide Männer wussten, dass jeder,
der närrisch genug war, bei dem ersten Anzeichen
einer Läuterung noch draußen zu bleiben, dumm und
schwach war und keinen Verlust darstellte. Und dennoch sagte Aruke:
»Bedauerlich. Sie war nicht unangenehm, und dieses Haus könnte ein
wenig Weiblichkeit gebrauchen. Aber nun, da ich dich
anerkannt
habe, wird ein ehrgeiziger Vater dir sicher schon bald
seine Tochter an den Hals werfen. Wir werden sehen,
was das Glück uns bringt.« Dann wandte er sich ab,
aber nicht, bevor er hinzugefügt hatte: »Geh jetzt und
ruhe dich aus. Du wirst heute Abend an meinem
Tisch sitzen.«
Es gelang Valko, sich leicht zu verbeugen, als sein
Vater ging. Dann sagte er zum Meisterbehandler:
»Schnell jetzt. Bringt mich auf mein Zimmer, damit
ich nicht vor den Dienstboten das Bewusstsein verliere.«
»Ja, junger Lord«, antwortete der Meisterbehandler, und er
bedeutete seinen Helfern, den jungen
Herrn der Camareen zu seinen Räumen zu führen.
Valko erwachte, als ein Diener sanft sein Bettzeug berührte, weil er es nicht wagte, den jungen Spross der Camareen tatsächlich anzufassen. »Was ist?« Der Diener verbeugte sich. »Herr, Euer Vater verlangt, dass Ihr Euch sofort zu ihm begebt.« Er deutete auf einen Stuhl, auf dem Kleidung bereitlag. »Er bittet Euch, diese Kleidung zu tragen, die Eurem neuen Rang entspricht.«
Valko stand auf, und es gelang ihm kaum, das Gesicht nicht schmerzerfüllt zu verziehen. Er warf einen Blick zur Seite, ob der Diener diese Spur von Schwäche bemerkt hatte, und sah eine ausdruckslose Miene. Der Mann war noch jung, vielleicht nur wenig älter als Valkos siebzehn Jahre, aber offenbar schon sehr geübt, was seine Rolle als Diener in einem großen Haus anging. »Wie heißt du?«
»Nolun, Herr.«»Ich werde einen Leibdiener brauchen. Du wirst
genügen.«
Nolun erreichte beinahe den Boden, als er sich verbeugte. »Ich
danke dem jungen Herrn für diese Ehre, aber der Vogt wird Euch bald
einen Leibdiener schicken, Herr.«
»Das hat er bereits«, sagte Valko. »Du wirst genügen.«
Wieder verbeugte sich Nolun. »Ihr ehrt mich sehr, Herr.«
»Führe mich zur Halle meines Vaters.«
Der Diener verbeugte sich, öffnete die Tür, ließ Valko
hindurchgehen und eilte dann vor ihn, um ihn zur Haupthalle der
Burg seines Vaters zu führen. Als Anwärter auf Anerkennung seiner
Position als Sohn hatte man Valko zunächst ins »Armenquartier«
gebracht, in die Räume, die für die Machtlosen bestimmt waren und
für jene, deren Rang niedrig genug war, dass es nichts ausmachte,
sie zu beleidigen: nützliche Kaufleute, Behandler, Unterhalter und
sehr unwichtige Verwandte. Diese Zimmer waren kaum mehr als karge
Zellen mit Strohmatratzen und einer einzelnen Laterne.
Valko vermisste bereits sein neues Bett, das weichste, in dem er je
gelegen hatte. In den Jahren des Verbergens hatte er selten auf
etwas Besserem geschlafen als dem Strohsack, der in den
»Armenquartieren« auf ihn gewartet hatte.
Als sie um eine Ecke kamen, zögerte Valko einen Moment. »Nolun,
warte.«
Der Diener drehte sich um und sah seinen neuen jungen Herrn aus
einem großen Fenster schauen, das auf das Heplanische Meer
hinausging. Hinter der Stadt Camareen und ihrem Hafen glitzerte das
Wasser in der Nacht, und die Energie der Bewegung verursachte auf
der Oberfläche ein Farbenspiel, das der Junge nie zuvor gesehen
hatte. Seine Mutter hatte ihn zum Versteck in den Bergen gebracht,
und er hatte das Meer nur kurz auf seinem Weg in die Stadt gesehen.
Die Größe dieses Gewässers war beeindruckend, als er es von den
Gipfeln und Pässen der Schneehüter herab sah, wie die Berge genannt
wurden, aber nichts hatte ihn auf die reine Schönheit des Meeres
bei Nacht vorbereitet.
»Was sind diese kleinen Farbflecken dort?«, fragte er und zeigte
darauf.
»Ein Fisch namens Shagra, junger Herr«, antwortete Nolun. »Er
springt aus der Tiefe … aus keinem Grund, den jemand feststellen
konnte, vielleicht einfach aus Freude, und der Sprung stört das
Muster des Meeres.«
»Es ist … beeindruckend.« Valko hätte beinahe schön gesagt, aber es
wäre unmännlich, ein solches Wort zu verwenden. Ihm wurde klar,
dass Nolun ihn ansah. Der Diener war beinahe einen Fuß kleiner als
Valko und von kräftigem Körperbau; er hatte eine breite Brust,
einen Stiernacken und kurze Wurstfinger an riesigen Händen.
»Kämpfst du?«
»Wenn es notwendig ist, junger Herr.«
»Bist du gut?«
Einen Moment lang flackerte etwas hinter den Augen des Dieners auf,
dann senkte er den Kopf und sagte leise: »Ich lebe noch.«
»Ja«, erwiderte Valko leise lachend. »Das tust du. Und jetzt zur
Halle meines Vaters.«
Als sie die große Halle erreichten, grüßten die beiden bewaffneten
Wachen den neuen Erben des Mantels der Camareen mit militärischen
Ehren. Valko ignorierte die Schmerzen in Arm, Schulter und der
linken Hüfte und ging durch die Halle, um sich vor seinen Vater zu
stellen. Aruke saß in der Mitte eines langen Tisches, der vor einer
riesigen Feuerstelle stand. »Ich bin hier, Vater.«
Aruke deutete auf einen leeren Stuhl. »Dies ist dein Platz, mein
Sohn.«
Valko ging um den Tisch herum und sah dabei jene an, die bereits
saßen. Die meisten waren ihrer Kleidung und den Abzeichen nach zu
schließen Würdenträger. Links von seinem Vater saß eine
wunderschöne Frau, zweifellos seine derzeitige Favoritin. Am Tag
zuvor hatte Valko Dinge gehört, die ihn glauben ließen, dass die
vorherige Gefährtin seines Vaters verschwunden war, beinahe mit
Sicherheit in ein Versteck.
Valko erkannte zwei weitere Männer, obwohl er ihre Namen nicht
kannte; sie waren Reiter der Sadharin, Todesritter des Ordens wie
sein Vater. Es mussten vertrauenswürdige Verbündete sein, gebunden
durch gegenseitigen Nutzen und Vertrauen, oder sie hätten diese
Halle lange verlassen, bevor die Sonne im Westen
unterging.
»Heiße unsere Gäste willkommen«, sagte Aruke. »Lord Valin und Lord
Sand.«
Also sagte Valko: »Ich heiße Euch als Gäste meines Vaters
willkommen«, und ging hinter ihnen vorbei zu seinem Platz. Dass
keiner von ihnen sich umdrehte, um sein Vorbeigehen zu beobachten,
war ein Zeichen des Vertrauens. Ein Diener schob ihm den großen
Holzstuhl zur Rechten von Lord Aruke zurecht, und Valko setzte
sich.
»Sand und Valin sind meine engsten Verbündeten«, erklärte der Herr
der Camareen. »Sie sind zwei der drei Machtbeine, auf denen die
Sadharin ruhen.«
Valko nickte, um dies anzuerkennen.
Aruke machte eine Geste, und Diener eilten an den Tisch, um ihn mit
dem Essen ihres Herrn zu beladen. Ein ganzes Kapek mit intaktem
Kopf und Hufen wurde auf einem Spieß hereingetragen, glühend heißes
Fett knisterte hinter der festen Haut, und die beiden kräftigen
Diener, die das Gewicht trugen, sahen aus, als könnten sie der
Aufgabe kaum gerecht werden. Als man das Tier vor Aruke auf eine
große Holzplatte legte, sagte er: »Heute Abend ist ein guter Abend.
Ein Schwächling ist gestorben, und ein starker Mann hat
überlebt.«
Die anderen am Tisch nickten und murmelten zustimmende Worte, aber
Valko schwieg. Er atmete langsam und versuchte, sehr konzentriert
zu bleiben. Ihm tat alles weh, die Wunden pochten, und sein Kopf
dröhnte. Er hätte die Nacht lieber durchgeschlafen, aber er wusste,
dass es von höchster Wichtigkeit war, was er an diesem Abend und an
den folgenden Tagen tat. Ein falscher Schritt, und er würde von den
Zinnen geworfen und nicht zur Erbenzeremonie geführt
werden.
Im Lauf der Mahlzeit spürte er, wie etwas von seiner Kraft
zurückkehrte. Er trank nur ein wenig von dem tribinischen Wein,
denn er wollte konzentriert bleiben und auf keinen Fall am Tisch
einschlafen. Nach dem Verlauf des Gesprächs zu schließen, würde es
ein langer Abend des Geschichtenerzählens werden.
Er wusste wenig über die Angewohnheiten von Kriegern. Wie die
meisten jungen Männer hatte er die ersten siebzehn Jahre seines
Lebens im Versteck zugebracht. Seine Mutter war gut vorbereitet
gewesen, also bezweifelte er nicht, dass sie von vornherein
vorgehabt hatte, den Sohn eines mächtigen Adligen zur Welt zu
bringen. Auch seine Erziehung hatte gezeigt, dass sie eine
ehrgeizige Frau war, denn Valko konnte lesen, rechnen und Dinge
verstehen, die die meisten Krieger Ausführenden, Behandlern,
Vermittlern, Krämern, Erleichterern und den anderen geringeren
Kasten überließen. Sie hatte dafür gesorgt, dass er sich in allen
Lernfächern auskannte:
Geschichte, Sprachen und sogar Kunst. Und vor allem hatte sie eins
immer wieder betont: Über die Macht des Schwertarms hinaus reichte
die Macht des Geistes, und es brauchte mehr, um Erfolg zu haben,
als nur den Instinkten zu gehorchen. Sein Instinkt sagte ihm, den
Schwachen gegenüber gnadenlos zu sein, aber seine Mutter hatte ihn
gelehrt, dass selbst die Schwachen ihren Nutzen hatten, und indem
man die Schwächsten eher förderte, als sie zu vernichten, konnte
man bald ein gewisses Maß an Gewinn erringen. Sie hatte mehr als
einmal behauptet, dass der TeKarana nur aus einem einzigen Grund
Herrscher der Zwölf Welten war: Seine Ahnen waren schlauer gewesen
als die von allen anderen.
Valkos Mutter hatte ihm auch oft von den Festessen in der Großen
Halle von Lord Bekar erzählt, wo sein Vater sie ausgewählt hatte,
sein Bett zu wärmen. Sie hatte sich an die Gesetze gehalten und dem
Adligen klargemacht, dass sie imstande war, ein Kind zu gebären,
und sich in ihrem Empfängniszyklus befand. Sie hatte dafür gesorgt,
dass ihr Name mindestens drei Zeugen gegeben wurde, und dann hatte
sie sich ihm in seinem Schlafzimmer angeschlossen.
Plötzlich war die Mahlzeit zu Ende, und Valko erkannte, dass er in
seine Gedanken versunken war. Ein schneller Blick auf seinen Vater
machte ihm klar, dass man ihn zum Glück nicht entdeckt hatte. In
Gedanken zu versinken war gefährlich; er hätte etwas Wichtiges
überhören können, und man würde ihn für unaufmerksam
halten.
Aruke stand auf und sagte: »Ich bin heute Abend erfreut.«
Das war die einzige Möglichkeit für einen Kriegsherrn, sich zu
bedanken, ohne Schwäche zu zeigen. Lord Sand und Lord Valin erhoben
sich ebenfalls und nickten ihrem Gastgeber zu, und sie sagten
beinahe gleichzeitig: »Es war mir ein Vergnügen, hier zu
sein.«
Rasch leerte sich die Halle, bis Aruke und Valko allein waren, wenn
man von einer Handvoll Diener absah. Der Herr der Camareen sah
Nolun an Valkos Ellbogen und fragte: »Beanspruchst du diesen
da?«
Valko sagte: »Ich beanspruche ihn als Leibdiener.«
Es war eine sehr geringfügige Herausforderung, und dennoch eine,
die als Ausrede für einen Kampf dienen konnte – und Valko wusste,
dass sein Vater immer noch kräftig war und über Jahre der Erfahrung
verfügte –, aber er hatte ganz richtig angenommen, dass Aruke nur
der Form Genüge tat; er würde einen überlebenden Sohn wegen einer
solch banalen Angelegenheit wohl kaum töten.
»Dann erkenne ich den Anspruch an«, sagte Aruke. »Komm mit, und
dein Ding soll dir folgen. Ich wünsche, mit dir über
Angelegenheiten zwischen Vätern und Söhnen zu sprechen.«
Aruke wartete nicht, um zu sehen, ob man ihm gehorchte. Er ging mit
Sicherheit davon aus, dass Valko einen Schritt hinter ihm war, als
er sich umdrehte und vom Tisch zu einer großen Holztür in der
linken Wand ging. Die Tür war auf Hochglanz poliert, und im trüben
Licht konnte Valko sehen, dass sie vor Energie pulsierte. Es war
eine deutliche Warnung: Diese Tür war durch Magie geschützt, und
nur gewisse Personen konnten sie öffnen, ohne verletzt zu werden
oder den Tod zu finden.
Der Herr der Burg legte die Hand an die Tür, und sie öffnete sich
bei dieser Berührung. »Warte draußen«, wies er Nolun an. Er nahm
eine Fackel aus einem Halter neben der Tür und führte Valko
hinein.
Als sie die Tür hinter sich hatten, sah Valko, dass sie sich in
einem kleinen Flur befanden, an dessen Ende eine weitere, ebenfalls
durch Zauber geschützte Tür lag. »Es ist dumm, die Schutzzauber zu
verbergen, denn ich stelle keine Fallen, und die Zauberer verlangen
lächerliche Preise für solche Feinheiten.«
Bei der Erwähnung von Bannkrämern spürte Valko ein vertrautes
Zusammenziehen des Magens. Er wusste, dass es ein Zeichen von
Schwäche war, noch den Ängsten aus seiner Kindheit nachzuhängen,
aber Geschichten von bösen Bannkrämern und den mysteriösen
Sandzauberern waren für gewöhnlich der Stoff für die abendliche
Unterhaltung vor dem Schlafengehen gewesen, und seine Mutter hatte
ihm ein gesundes Misstrauen gegen jene mitgegeben, die Dinge aus
der Luft erschaffen konnten, indem sie Beschwörungen von sich gaben
und ihre Finger in geheimnisvollen Mustern bewegten.
Das Zimmer war schlicht, aber sehr schön, wenn man dieses Wort
benutzen durfte. Schönheit war immer etwas, was einen misstrauisch
machen sollte, hatte seine Mutter gesagt. Sie verlockte die Leute
dazu, nicht den wahren Wert von etwas kennen zu lernen, denn häufig
schmückte Schönheit wertlose Dinge … oder Personen.
Aruke hatte diesen Raum mit zwei Sesseln und einer Truhe
ausgestattet. Selbst der Steinboden war ohne jeden Schmuck gelassen
worden; es gab keine Felle, keine gewebten Teppiche, keine
Steppdecken, die den Raum wärmten. Und dennoch war er schön: Jede
Steinfacette war poliert, und was immer dieses seltsame Steinlicht
sein mochte, es warf das Fackellicht zurück, als wäre ein Schatz
von Edelsteinen zerdrückt und an der Oberfläche angebracht worden;
jede Farbe am Rand des sichtbaren Spektrums raste in funkelnden
Mustern über die Oberfläche. Es war eine Andeutung auf fremdartige
Energien. Als hätte er die Gedanken des Jungen gelesen, sagte
Aruke, als er die Fackel in einen Halter steckte: »Dieser Raum hat
nur einen Zweck: Hier bewahre ich auf, was für mich am wertvollsten
ist.« Er bedeutete Valko, sich auf dem Sessel nahe dem einzigen
Fenster niederzulassen. »Ich komme hierher, um nachzudenken, und
habe festgestellt, dass die Farben der Wände mich … erfrischen. Und
manchmal komme ich mit einigen wenigen anderen hierher, wenn ich
offen sprechen möchte.«
Valko sagte: »Ich glaube, ich verstehe, Vater.«
»Genau darum geht es – dein Vater zu sein –, weshalb ich mit dir
sprechen will.« Er lehnte sich zurück und schien sich einen
Augenblick zu entspannen.
Valko wusste, dass dies vielleicht ein Trick war, um ihn zu
verlocken, einen frühen Angriff zu beginnen, denn es kam durchaus
vor, dass ein frisch ernannter Erbe sofort die Macht an sich reißen
wollte. In gewisser Hinsicht erschien ihm dies durchaus sinnvoll:
Dieser Mann mochte sein Vater sein, aber bis vor ein paar Tagen war
er ein vollkommen Fremder gewesen, eine Schattengestalt, die er
sich nicht vorstellen konnte, obwohl er seiner Mutter zahllose
Fragen gestellt hatte.
Er wartete ab.
»Es ist unser Brauch, Stärke höher zu schätzen als alles andere«,
sagte Aruke schließlich. Er beugte sich vor. »Wir sind ein
gewalttätiges Volk, und wir ehren Gewalttätigkeit und Macht mehr
als alles andere.«
Valko schwieg.
Aruke sah ihn an. Nach einer Weile sagte er: »Ich kann mich gut an
deine Mutter erinnern.«
Wieder schwieg Valko.
»Hattest du schon eine Frau?«
Valko sah seinen Vater an und versuchte herauszufinden, worin die
korrekte Antwort bestehen würde. Schließlich sagte er: »Nein. Mein
Versteck war in einer isolierten –«
»Ich brauche nicht zu wissen wo«, unterbrach ihn sein Vater. »Kein
Vater sollte wissen, wo sein überlebender Sohn verborgen und
erzogen wurde. Es könnte eine Versuchung darstellen, einen solchen
Ort bei der nächsten Läuterung zu zerstören.« Dann fügte er leiser
und mit etwas wie einem Lachen hinzu: »Und wenn es ein Ort war, wo
ein starker Sohn heranwuchs, würde das … eine Verschwendung
darstellen.«
Valko entgegnete: »Eine Verschwendung wie das Töten des Sohns eines
anderen Mannes, den man nur mit größter Kraftanstrengung besiegen
konnte?«
Arukes Miene war ausdruckslos, aber die Haut um seine Augen wurde
ein wenig starrer. »Eine solche Frage grenzt an
Blasphemie.«
»Ich möchte Seine Dunkelheit nicht beleidigen und auch nicht Seinen
Orden, Vater, aber ich frage mich … Was, wenn der junge Mann, den
ich heute getötet habe, sich in einem anderen Kampf, auf einer
anderen Burg als der bessere Krieger erwiesen hätte? Ist das nicht
Verschwendung eines guten Kriegers, der dem Orden dienen
könnte?«
»Seine Wege sind geheimnisvoll«, erwiderte sein Vater. »Solche
ausschweifenden Gedanken sind die Gedanken der Jungen. Aber du
solltest sie lieber für dich behalten oder nur mit jenen darüber
sprechen, die unter dem Siegel des Schweigens stehen, einem
Priester, einem Behandler oder …« Er lachte. »Oder einer
Ausführenden, wie es deine Mutter war.«
Aruke stand auf und schaute einen Augenblick aus dem Fenster auf
die rollende Oberfläche des Meeres hinaus und auf das Spiel der
funkelnden Farben, die auf der Oberfläche des großen Gewässers
glitzerten. »Man sagte mir, es gäbe ein Reich, in dem die Sonne so
hell scheint, dass ein Krieger ohne Schutzzauber innerhalb von
Stunden aufgrund der Hitze verbrennen würde. Und dass jene, die
dort leben, die wunderbaren Dinge nicht sehen können, die für uns
alltäglich sind.« Er schaute seinen Sohn an. »Sie sehen zwar
Farben, aber keine hellen und dunklen Schattierungen. Sie können
nur Schallwellen in der Luft hören, aber nicht das Summen der
Gottessprache im Himmel oder die Vibration des Ganzen unter ihren
Füßen.«
»Ich habe einmal einen blinden Mann gesehen, der als Behandler
diente.«
Aruke spuckte aus und machte ein rituelles Abwehrzeichen. »In der
Obhut eines solchen Mannes ist das Einzige, was du sehen kannst,
seine Schwäche. Es tut mir leid, dass du als so junger Mensch so
etwas erleben musstest. Die Behandler haben ihren Zweck, das weiß
Seine Dunkelheit, und er weiß ebenfalls, dass ich nicht hier sitzen
und mit dir sprechen würde, wenn sie sich nicht nach so manchem
Kampf um mich gekümmert hätten. Aber dieses Ding, das sie an sich
haben … diese Fürsorge für Schwäche … es widert mich an.«
Valko sagte nichts. Er fühlte sich nicht angewidert, er war eher
fasziniert. Er wollte wissen, wieso die Behandler einen solchen
Mann am Leben ließen. Er hatte seine Mutter gefragt, aber sie sagte
nur: »Zweifellos, weil sie ihn nützlich finden.« Wie konnte ein
Blinder nützlich sein? Er erkannte, dass dies ein weiterer dieser
Gedanken sein musste, die sein Vater gerade als »ausschweifend«
bezeichnet hatte, und er ihn lieber verschweigen sollte.
Aruke setzte sich wieder. »Eine Frau. Wir müssen dir eine
beschaffen«, erklärte er nachdenklich. »Aber nicht heute Nacht. Du
hast dich gut gehalten, und ich war stolz auf dich, aber ich habe
genug Wunden gesehen und weiß, dass du zu viel Blut verloren hast,
um heute Nacht etwas anderes zu tun als zu schlafen. Deine Mutter
war diejenige, die …« Er schien in Gedanken zu versinken. »Sie
sprach von Dingen. Wenn wir nach der Vereinigung nebeneinander
lagen, dachte sie über … alle möglichen Dinge nach. Sie hatte einen
einzigartigen Verstand.«
Valko nickte. »Selbst die anderen Ausführenden, denen ich während
der Zeit des Verbergens begegnete, waren nicht wie Mutter. Eine
sagte, dass sie Dinge sah, die nicht da waren.« Arukes Augen
weiteten sich, und Valko wusste, dass er einem katastrophalen
Fehler sehr nahe gekommen war; selbst eine Andeutung, dass seine
Mutter von Wahnsinn erfasst war, konnte seinen Vater dazu bringen,
seinen sofortigen Tod zu befehlen. Schnell fügte er hinzu:
»Möglichkeiten.«
Aruke lachte. »Sie sprach oft von diesen Möglichkeiten.« Er blickte
aus dem Fenster. »Manchmal grenzte das, was sie sagte, an … nun,
sagen wir, es wäre nicht gut gewesen, wenn einer der Hierophanten
sie gehört hätte. Ein Seelenpriester hätte sie gewarnt und
verlangt, dass sie bereute, und darum gebetet, dass ihre Dunkelheit
sich wieder festigte, aber es gab Dinge an ihren Stimmungen und
ihrer Art, die ich … reizvoll fand.« Er schaute auf seine Hände
hinab, die er vor sich gefaltet hatte, und fügte hinzu: »Einmal
fragte sie sich laut, was geschehen würde, wenn ein Kind bei seinem
Vater aufwüchse.«
Valko riss erstaunt den Mund auf, dann klappte er ihn wieder zu.
»Solche Gedanken sind verboten«, flüsterte er.
»Ja.« Mit einem Lächeln fügte Aruke hinzu: »Aber du wirst mehr über
deine Mutter wissen als ich. Von allen, mit denen ich mich
vereinigt habe und die vor Zeugen erklärten, dass sie mir einen
Erben schenken würden, ist sie es, an die ich mich am meisten
erinnere.« Er stand auf. »Ich habe mich oft gefragt, wie du sein
würdest und ob du etwas vom Wesen deiner Mutter hättest.«
Valko stand ebenfalls auf. »Ich gebe zu, dass sie mich manchmal auf
seltsame Weise über Dinge nachdenken ließ, aber ich bin nie von
Seinen Lehren abgewichen, und … ich habe einen großen Teil dessen,
was sie mir beibringen wollte, ignoriert.«
Aruke lachte. »So wie ich die Lehren meiner Mutter während des
Versteckens ignorierte.« Er legte seinem Sohn die Hand auf die
Schulter. Als er sie fest drückte, fügte er hinzu: »Bleibe am
Leben, Sohn. Ich habe vierundfünfzig Winter hinter mir, und obwohl
andere Söhne in den nächsten Jahren erscheinen werden, werden es
weniger und weniger sein. Und es würde mich nicht stören, wenn du
derjenige wärst, der am Ende meinen Kopf nimmt, wie ich den meines
Vaters nahm. Ich erinnere mich immer noch an den Stolz in seinem
Blick, als ich das Schwert auf seinen Hals herunterriss, während er
dort im Sand der Grube lag.«
»Ich werde dich nicht enttäuschen«, sagte Valko. »Aber ich hoffe,
dass es bis dahin noch viele Jahre dauert.«
»Ebenso wie ich. Aber als Erstes musst du am Leben
bleiben.«
»Am Leben bleiben«, erwiderte Valko in beinahe rituellem Ton. »Wie
Er es bestimmt.«
»Wie Er es bestimmt«, wiederholte Aruke. »Was hier besprochen wird,
wird nicht außerhalb wiederholt. Verstanden?«
»Verstanden, Vater.«
»Und jetzt geh, lass dich von deinem Ding zu deinem Quartier
bringen und schlafe. Morgen beginnst du deine Ausbildung als
künftiger Herr der Camareen.«
»Gute Nacht, Vater.«
»Gute Nacht, Valko.«
Valko ging, und Aruke kehrte zu seinem Sessel zurück. Er starrte
auf das Meer und die Sterne, fasziniert von dem, was er über sie
wusste, und neugierig auf das, was er nicht wusste. Er sah das
Sternenlicht durch die dichte Luft von Kosridi fallen. Er dachte an
seine dritte Reise zur Hauptstadt, um seinen Sohn dem Karana zu
präsentieren, um dem Orden und dem TeKarana Treue zu schwören, der
Welten entfernt auf seinem uralten Thron saß. Er dachte an das
dritte Mal, dass er die Hierophanten und ihre langen Beschwörungen
ertragen musste, während Valko sich Seiner Dunkelheit und Seinem
Weg verpflichtete.
Dann stand er auf und nahm eine einzelne, sehr alte Schriftrolle
aus der Truhe. Er öffnete sie und las sie langsam, denn Lesen hatte
nie zu seinen besseren Fähigkeiten gehört. Aber er kannte jedes
Wort auswendig. Er las die Worte auf der Schriftrolle zweimal, dann
legte er sie wieder weg und fragte sich, wie er sich schon zweimal
zuvor gefragt hatte, ob dieser Sohn derjenige war, den die
Prophezeiung erwähnte.
Neue Möglichkeiten
Pug wartete.
Nach einiger Zeit sagte der Kaufmann: »Nein, das bin ich nicht, aber Ihr seid nicht weit von der Wahrheit entfernt.« Er winkte Pug an einen kleinen Tisch mit zwei Stühlen, die so gearbeitet waren, dass sie sowohl Menschen als auch ihm selbst genügend Bequemlichkeit lieferten. Als er saß, fuhr Vordam fort: »Eine verständliche Fehleinschätzung; wir von den Ipiliac sind mit den Dasati verwandt.«
Pug war nicht sicher, ob er die Miene des fremden Kaufmanns deuten konnte, aber er glaubte, so etwas wie Überraschung bei ihm zu bemerken. »Ich muss gestehen, ich hätte nie erwartet, hier im Gasthaus jemanden zu finden, der auch nur von den Dasati gehört hat, geschweige denn in der Lage ist, einen zu erkennen.«
»Ich habe eine sehr lebhafte Beschreibung gehört«, sagte Pug und entschloss sich, über seine Fähigkeit, die Unterschiede zwischen den Vibrationen in diesem Raum und dem Rest des Ehrlichen John wahrzunehmen, zunächst nicht zu sprechen. »Ich möchte lieber nicht darüber reden, wieso ich Informationen benötige, und nur sagen, dass ich diese Informationen brauche.«
»Informationen zählen zu den gesuchtesten Handelswaren.« Der Kaufmann verschränkte die Hände vor sich und beugte sich zum Tisch vor, eine sehr menschliche Geste. »Was die Gründe für Eure Anfrage angeht, so bleiben sie Eure Sache, aber ich sehe mich gezwungen, Euch zu informieren, dass ich durch mehrere Eide gebunden bin, nur bestimmte Arten von Geschäften mit meinen Kunden hier im Gang abzuwickeln.« Er nickte. »Ihr müsst verstehen, dass dies unerlässlich ist, wenn man hier im Geschäft bleiben will.«
»Was ist es genau, das Ihr tut?«
»Ich liefere schwer zu findende Gegenstände und andere, äh, Dinge:
seltene Artefakte, einzigartige Geräte, verlorene Personen,
Informationen. Wenn Ihr etwas sucht, was Ihr billig erwerben wollt,
bin ich sicher nicht Eure erste Wahl. Aber wenn Ihr unbedingt etwas
sehr Bestimmtes finden wollt, bin ich beinahe mit Sicherheit
jemand, der Euch von Nutzen sein kann.« Er betrachtete Pug, und der
Magier bemerkte, dass er das Mienenspiel des Ipiliac langsam
verstand. Der Kaufmann war neugierig.
»Ich muss einen Führer finden.«
»Führer gibt es zu Genüge, sogar gute. Ihr müsst einen sehr
speziellen Führer finden wollen, wenn Ihr mich aufsucht. Wohin
möchtet Ihr denn gehen?«
»Nach Kosridi«, sagte Pug.
Er zweifelte nicht daran, dass der Ausdruck, den er nun auf Vordams
Gesicht sah, einer der Überraschung war, denn die Augen des
Kaufmanns waren ein wenig größer geworden, und sein Mund öffnete
sich leicht.
»Das könnt Ihr nicht ernst meinen.«
»Doch, das tue ich. Sehr ernst.«
Längere Zeit saß der Kaufmann nur da, dann sagte er: »Dürfte ich
Euren Namen erfahren?«
»Pug von Midkemia.«
Ein langsames Nicken. »Dann vielleicht …« Vordam wählte seine Worte
sehr sorgfältig, dann sagte er: »Vielleicht ist es möglich. Euer
Ruf im Gang ist stetig gewachsen, junger Magier.«
Pug lächelte. Es war ein paar Jahre her, seit jemand ihn als »jung«
bezeichnet hatte.
»Ich kannte Euren Mentor Macros.«
Pug kniff die Augen zusammen. Ganz gleich, was in seinem Leben
geschah, er stieß immer wieder auf Spuren, die sein Schwiegervater
zurückgelassen hatte. »Tatsächlich?«
»Ja, er hat vor mehreren Jahrhunderten Grund gehabt, mit mir
Geschäfte zu machen. Als Ihr zum ersten Mal im Gang erschient, mit
ihm und zwei anderen, bliebt Ihr nicht unbemerkt. Tomas von
Elvandar erregte selbstverständlich einiges Aufsehen, da er auf den
ersten Blick wirkte wie ein zurückgekehrter Valheru, ein möglicher
Grund für großen Kummer bei vielen Völkern vieler Welten. Die junge
Frau war uns, auch wenn sie nach allen Berichten bemerkenswert war,
unbekannt und ist es weiterhin.«
Soweit sich Pug an ihre Reise zurück nach Midkemia durch den Gang
erinnern konnte, nachdem sie Macros aus dem Garten in der Ewigen
Stadt gerettet hatten, waren sie dabei unterwegs keiner anderen
Person begegnet. »Offenbar verfügt Ihr über sehr gute
Informationsquellen«, sagte Pug. »Kanntet Ihr Macros
gut?«
Der Kaufmann lehnte sich weiter zurück und gestattete seinem Arm,
in einer entspannten Haltung über dem Rücken des Stuhls zu hängen.
»Tat das überhaupt jemand? Ich bin jedoch nie wieder einem wie ihm
begegnet.«
Pug erkannte, dass der Kaufmann etwas zurückhielt, etwas, was er
vermutlich erst enthüllen würde, wenn er bereit dazu war, also
kehrte er zu dem Grund für seinen Besuch zurück. »Der
Führer?«
Einen Augenblick schwieg der Kaufmann. Dann sagte er: »Es ist sehr
schwierig.«
»Was?«
»Für ein Wesen von dieser Ebene der Wirklichkeit zum Reich der
Dasati zu reisen.«
»Und dennoch seid Ihr hier, und Ihr behauptet, mit den Dasati
verwandt zu sein.«
Vordam nickte, dann blickte er zur Tür, als erwartete er jemanden.
Bedächtig sagte er: »Ihr müsst verstehen … große Denker und
Philosophen von einer Unzahl von Welten haben mit dem Wesen der
Wirklichkeit gerungen. Wie kann man die Existenz so vieler Welten,
so vieler Völker, so vieler Götter und Göttinnen und vor allem so
vieler Geheimnisse erklären?« Er sah Pug in die Augen. »Ihr seid
kein Mann, dem ich beschreiben muss, was Neugier ist. Also
bezweifle ich auch nicht, dass Ihr häufig Zeit damit verbrachtet,
über diese und andere Unwägbarkeiten nachzudenken.«
»Das habe ich.«
»Stellt Euch alles, und ich meine alles,
als eine Zwiebel vor. Jede Schicht, die Ihr abschält, hat eine
andere Schicht darunter. Oder wenn Ihr in der Mitte beginnen
könntet, gibt es jeweils eine Schicht darüber. Nur, dass es keine
Kugel ist, dieses ›alles‹, sondern, nun ja … eben alles. Ich weiß,
dass Ihr ein Mann von scharfer Wahrnehmung seid, Pug von Midkemia,
also verzeiht mir, wenn ich klinge wie ein langweiliger Lehrer,
aber es gibt Dinge, die Ihr unbedingt verstehen müsst, bevor Ihr
auch nur an eine Reise ins Reich der Dasati denkt. Oberhalb und
unterhalb dieses Universums, das wir bewohnen, existieren
unterschiedliche Wirklichkeiten, die wir nur indirekt kennen.
Vieles von dem, was wir wissen, ist durch Mystizismus und Glauben
gefiltert, aber die meisten Gelehrten, Theologen und Philosophen
sind der Ansicht, dass es andere Dimensionen gibt, die sieben
höheren und tieferen Ebenen.«
»Die sieben Höllen und die sieben Himmel?«
»So nennen viele Völker sie«, antwortete Vordam. »Es gibt
wahrscheinlich noch mehr, aber bis man die siebte Ebene sowohl des
Himmels als auch der Hölle erreicht, hat man keine Bezugspunkte
mehr, die … nun, die noch irgendeinen Sinn ergeben würden. Der
siebte Himmel ist ein Reich, das so gesegnet, so voller Freude sein
soll, dass sterbliche Geister nicht einmal den Gedanken begreifen
können. Der sechste Himmel ist bevölkert von Wesen, deren Brillanz
und Schönheit solches Staunen und solche Freude bringen würden,
dass wir sterben müssten, überwältigt vor Glück, auch nur in ihrer
Nähe zu sein … Wenn man einigen Berichten glauben darf«, sagte
Vordam, »dann hattet Ihr bereits mit Dämonen aus dem fünften Kreis,
der fünften Hölle, zu tun.«
»Mit einem von ihnen«, erklärte Pug mit finsterer Miene. »Es hätte
mich beinahe das Leben gekostet.«
»Der fünfte Himmel ist das Gegenteil. Diese Wesen geben sich mit
Dingen ab, die wir nicht begreifen können, aber sie wollen uns
nicht schaden. Dennoch wäre es ausgesprochen gefährlich, sie zu
sehen, so intensiv ist das Wesen ihres Seins.« Er hielt inne.
»Hinter den so genannten Kreisen oder Ebenen liegt die
Leere.«
»Und dort leben die Schreckenslords«, fügte Pug hinzu.
»Ah«, sagte Vordam. »Euer Ruf wurde nicht übertrieben.«
»Ich hatte schon mit den Schreckenslords zu tun.«
»Und Ihr habt es überlebt, um darüber zu berichten. Mein Respekt
für Eure Fähigkeiten wächst mit jeder Sekunde. Die Schreckenslords
sind sowohl für die Himmel als auch für die Höllen schrecklich, da
sie von der Leere umgeben sind, und sie würde sie verschlingen,
wenn sie könnte.«
»Ihr sprecht von der Leere, als hätte sie ein
Bewusstsein.«
»Hat sie das nicht?«, fragte Vordam rhetorisch. »Direkt über uns
befindet sich, was als erster Himmel betrachtet wird, so, wie man
im Allgemeinen die erste Hölle als unter uns gelegen betrachtet.«
Er sah Pug in die Augen und sagte: »Nur damit wir uns nicht falsch
verstehen, Pug. Dorthin wollt Ihr reisen. Das ist das Dasati-Reich,
von dem Ihr sprecht. Ihr bittet darum, dass ein Führer Euch in die
Hölle bringt.«
Pug nickte. »Ich glaube, ich verstehe.« Seine Miene war eine
Mischung aus Neugier und Besorgnis. »Zumindest abstrakt
betrachtet.«
»Dann lasst mich Euch ein paar weniger abstrakte Bilder geben. Ihr
könnt die Luft nur eine kurze Weile atmen und das Wasser nur kurz
trinken. Die Luft könnte wie ein ätzendes Gas wirken, das Wasser
wie Säure. Dies ist nur eine Analogie, aber die Wahrheit verhält
sich wahrscheinlich erheblich subtiler, denn ihre Luft könnte auch
nicht ätzend sein und ihr Wasser keine Säure enthalten.«
»Ich bin … ein wenig verwirrt«, gab Pug zu.
»Denkt an Wasser, das einen Hügel hinunterläuft. Je höher wir in
den Reichen steigen, von der untersten Hölle zum höchsten Himmel,
desto heller, heißer und mächtiger werden alle Energien, das Licht,
die Hitze, die Magie, und daher fließen alle Energien von oben nach
unten. Die Luft und das Wasser von Kosridi würden Euch buchstäblich
alle Energien nehmen; Ihr wärt wie eine Handvoll trockenes Stroh,
das jemand aufs Feuer wirft. Es würde eine kurze Weile hell brennen
und dann vergehen. Die Bewohner dieses Reichs hätten ebenfalls
Schwierigkeiten in Eurem Reich, wenn auch andere Probleme: Sie
würden glückselig werden, wenn sie all die überschwänglichen
Energien aufnähmen, die sie umgeben, aber nach einer Weile würden
sie sich fühlen wie Menschen, die zu viel gegessen und getrunken
haben, wären überwältigt von Trunkenheit und zu viel Essen und kaum
imstande, sich zu bewegen, bis der Exzess zu ihrem Tod
führte.«
»Wie könnt Ihr, ein Verwandter der Dasati, dann hier im Gang
leben?«
»Bevor ich das erkläre, möchte ich vorschlagen, dass Ihr Eure
Gefährten auswählt, deren Begleitung Ihr wünscht, und mit ihnen
hierher zurückkehrt.«
»Gefährten?«, fragte Pug.
»Ihr möchtet vielleicht die Gefahr auf Euch nehmen, in die
Dasati-Welt zu gehen, aber nur ein Verrückter würde alleine gehen.«
Der Kaufmann sah Pug mit einer Miene an, die man nur berechnend
nennen konnte. »Ich schlage eine eher kleine, aber mächtige Gruppe
vor.« Er stand auf. »Ich werde den Rest erklären, sobald sie
eingetroffen ist. Während Ihr weg seid, werde ich einen Führer für
Euch finden, der auch Euer Lehrer sein wird.«
»Lehrer?«, fragte Pug.
Mit etwas, das Pug inzwischen als Lächeln bezeichnete, einem
Ausdruck, den ein anderer vielleicht als furchterregende Grimasse
sah, sagte Vordam: »Kehrt nach Eurem Kalender in einer Woche
hierher zurück, und alles wird bereit sein für Eure
Ausbildung.«
Aruke lehnte sich in seinem Sessel zurück. Wieder befanden sie sich in dem Raum, zu dem er seinen Sohn nach ihrem ersten gemeinsamen Abendessen gebracht hatte. »Es gibt einen Ort, der vom Reich betrieben wird, wo wir unsere Söhne ausbilden.«
»Aber ich dachte, du würdest mich ausbilden«, sagte Valko, der lieber am Fenster stand, als seinem Vater gegenüberzusitzen. »Du bist ein hervorragender Krieger, einer, der dieses Haus seit siebenundzwanzig Wintern beherrscht.«
»Herrschen bedeutet mehr als die Fähigkeit,
Köpfe abzuschlagen, mein Sohn.«
»Das verstehe ich nicht.«
Aruke hatte zwei große Krüge mit Wein mit in den Raum genommen.
Valkos Krug stand unberührt auf dem Boden neben seinem Sessel. Der
Herr der Camareen trank aus seinem. »Ich erinnere mich, wie ich aus
meinem Versteck kam. Ich befand mich verglichen mit dir im
Nachteil, denn meine Mutter war nicht so klug wie deine. Ich
wusste, wie man kämpft. Niemand überlebt das Versteck, ohne das zu
lernen, aber die Fähigkeit, jemanden zu erschlagen und dir zu
nehmen, was du brauchst, ist nur ein Teil davon.« Er betrachtete
seinen Sohn. In den paar Tagen, in denen Valko hier wohnte, hatte
Aruke immer mehr ein Gefühl angenehmer Erwartung verspürt, wenn er
den Jungen sah. Sie waren sogar vor zwei Tagen zusammen auf die
Jagd gegangen, und er hatte den Jungen fähig, wenn auch
ungeschliffen gefunden. Valko hatte sich furchtlos einem
angreifenden Tugash-Eber gestellt, der seine Sau und ihren Wurf
verteidigte, das Tier mit einer geschickten Bewegung enthauptet und
verhindert, dass der Eber ihn umbrachte. Aruke hatte ein seltsames
Gefühl gehabt: Wenn das Tier Valko getötet hätte, hätte er so etwas
wie Trauer empfunden. Er fragte sich, woher diese fremdartige
Empfindung kam und ob es ein Zeichen der Schwäche war, die das
Alter mit sich brachte.
»Dieser Ort wird als Schule bezeichnet. Er befindet sich nicht weit
von hier, also wirst du hin und wieder zu Besuch kommen können. Es
ist ein Ort, an dem Erleichterer und Ausführende dir die Dinge
zeigen werden, die du brauchen wirst, um meinen Kopf zu nehmen und
nach mir zu herrschen.«
»Das liegt noch Jahre in der Zukunft, Vater, und ich hoffe, wenn
ich es tue, wirst du es begrüßen.«
»Wenn du mir Schwäche ersparst und beweist, dass meine Familie
stark ist, kann kein Mann mehr verlangen als das, mein
Sohn.«
»Was werde ich lernen?«
»Als Erstes die Fähigkeit zu lernen. Es ist schwierig: Stundenlang
dasitzen und Ausführenden zuhören und Erleichterer beobachten, kann
geistestötend sein. Als Zweites wirst du deine Fähigkeiten als
Kämpfer vergrößern. Ich erinnere mich, wie ich die ersten
Grundbegriffe lernte, zuerst mit Holzstöcken, mit denen ich gegen
die anderen Jungen im Versteck kämpfte. Dann die Vorstöße des
Nachts in ein benachbartes Dorf, um zu stehlen, was wir brauchten,
und schließlich das Handeln mit den Erleichterern, um genug Gold
für eine Rüstung zu haben.« Er seufzte. »Es scheint so lange
zurückzuliegen. Aber ganz gleich, mit wie vielen älteren Jungen du
dich geschlagen hast, nicht einmal dein Sieg über Keskos Sohn
bedeutet, dass du ein erfahrener Krieger bist. Du verfügst über
rohe Begabung, aber sie muss verfeinert werden, bevor du mit den
Sadharin reiten kannst.« Aruke lehnte sich zurück, trank einen
Schluck Wein und fügte dann hinzu: »Und so unangenehm es klingen
mag, ein Herrscher muss auch wissen, wie man mit den Geringeren
umgeht.«
»Mit ihnen umgehen? Das verstehe ich nicht. Man nimmt sich, was man
braucht, oder sie werden umgebracht.«
»So einfach ist das nicht. Die Ausführenden werden dir beibringen,
wie komplex die Dinge sein können, aber mach dir keine Gedanken –
du scheinst intelligent genug zu sein, um sie zu verstehen. Und die
Erleichterer werden dir zeigen, wie du umsetzen sollst, was die
Ausführenden dich gelehrt haben.«
»Wann werde ich zu dieser Schule gehen, Vater?«
»Morgen. Du wirst mit einer vollen Eskorte reisen, wie es sich für
den Erben der Camareen gehört. Und nun geh und überlass mich meinen
eigenen Gedanken.«
Valko stand auf und ließ den unberührten Wein am Sessel stehen. Als
die Tür sich schloss, fragte sich Aruke, ob der Junge irgendwie
gewusst hatte, dass das Getränk vergiftet war, oder ob er nur
keinen Durst gehabt hatte – er würde ihn nie so früh in seiner
Erziehung sterben lassen, aber es war lehrreich, sich ein wenig
unter Schmerzen zu winden, und ein Behandler hatte bereitgestanden,
um ihm das Gegengift zu geben.
Als die Tür hinter ihm zufiel, lächelte Valko dünn. Er wusste, dass sein Vater sich jetzt wohl gerade fragte, ob er wusste, dass sein Wein vergiftet war. Sein Lächeln wurde strahlender. Morgen würde er mit der Erziehung beginnen, von der seine Mutter ihm erzählt hatte. Er freute sich auf den Tag, an dem er nach ihr schicken und ihr zeigen konnte, dass nichts von dem, was sie ihm gesagt hatte, verschwendet gewesen war. Was sie ihm über seinen Vater erzählt hatte, war wahr gewesen, und was sie über die Schule gesagt hatte, entsprach sicher ebenfalls der Wahrheit. Vielleicht würde sie ihm dann auch verraten, wieso sie ihn verpflichtet hatte, Aruke anzulügen, was ihren Tod anging. Er schob den Gedanken beiseite und erinnerte sich stattdessen an ihre Worte zum Abschied: Sorge dafür, dass sie dich unterschätzen. Lass sie glauben, dass sie schlauer sind als du. Es wird ihr Untergang sein.
»Ausbildung?«, fragte Jommy. »Wozu?«
»Einfach so«, antwortete Caleb, der gerade von
der Insel des Zauberers eingetroffen war.
Talwin Hawkins fügte hinzu: »Pug sagt, ihr
braucht es.«
Tad und Zane wechselten einen Blick. Sie wussten, dass Jommy nur zu
gern widersprach, und wenn
er es tat, wurde er so störrisch wie ein Maultier, dessen Hufe an
den Boden genagelt waren. Die Jungen
hatten das Leben in der Stadt genossen, und sie hatten sich an den
Ablenkungen erfreut, die Opardum,
die Hauptstadt des Herzogtums von Olasko, nun Teil
des Königreichs von Roldem, ihnen bot.
Derzeit saßen sie im leeren Speisesaal des Hauses
am Fluss, des Restaurants, das Talwin nach seiner
Rückkehr nach Opardum eröffnet hatte. So erfolgreich war das
Unternehmen gewesen – die Leute
warteten Stunden, um Plätze zu bekommen –, dass er
gezwungen gewesen war, das Restaurant zu vergrößern. Er hatte
gerade das Gebäude nebenan gekauft
und würde die Anzahl der Sitze dadurch um die
Hälfte erhöhen. Lucian, der Tals persönlicher Koch
in Roldem gewesen war, bevor er in Opardum zu
ihm stieß, bezeichnete sich als Chef, ein
Wort aus
Bas-Tyra für einen Meisterkoch. Er und seine Frau
Magary wurden überall in Olasko gefeiert. Die Jungen arbeiteten als
Hilfskräfte in der Küche, und hin
und wieder servierten sie auch. Der beste Teil der
Arbeit war das Essen: Es gab alle Arten wunderbarer
Gerichte, und am Ende eines Tages stellte Magary oft besondere
Leckereien beiseite, die andere Jungen ihrer Stellung nie genießen
würden, denn sie hatte sie
liebgewonnen.
Die Jungen betrachteten Talwin als so etwas wie
einen Onkel, der einen Spaß haben ließ, wenn der
Vater es nicht tat. Aber dieser Vater, Caleb, war am
Abend zuvor erschienen, nachdem er ein paar Wochen allein mit Tads
und Zanes Mutter verbracht und
dann einen Auftrag für seinen Vater erledigt hatte. Der Junge, der
so etwas wie ein Vetter für sie geworden war, saß ruhig da und
versuchte, seinem
Namen nicht gerecht zu werden. Es fiel Laughing
Eyes Hawkins, dem frühreifsten Siebenjährigen, dem
sie je begegnet waren, jedoch sehr schwer, sein Entzücken zu
verbergen. Der Junge war nach seinem
Großvater benannt und das ältere von Hawkins’ Kindern – das zweite
war ein reizendes kleines Mädchen, das Sunset Peaks hieß.
Jommy warf dem Jungen einen finsteren Blick zu,
und das brachte das Gleichgewicht endgültig zum
Kippen. Laughing Eyes konnte seine Heiterkeit nicht
mehr verbergen. »Und was ist daran so komisch?«,
fragte Jommy.
»Ihr geht zur Schule!«, johlte Laughing Eyes. Er
hatte das rötlichblonde Haar seiner Mutter, und in
seinen blauen Augen lag ein boshaftes Glitzern, als
er Jommy angrinste.
Schließlich sagte Tad: »Haltet mich nicht für
dumm, weil ich frage, aber was genau ist eine Schule?«
»Du bist nicht dumm, weil du etwas nicht weißt«,
erwiderte Caleb. »Du bist nur dumm, wenn du nicht
fragst. Eine Schule ist ein Ort, an den Schüler gehen,
um von einem Lehrer zu lernen. Es ist, als hätte man
einen Privatlehrer, aber für mehrere Jungen und
Mädchen gleichzeitig.«
»Ah«, sagte Zane, als verstünde er das. Was er offensichtlich nicht
tat.
»In Roldem haben sie viele Schulen«, sagte Tal,
»die überwiegend von den Gilden betrieben werden.
Es ist anders als im Königreich, in Kesh oder hier in
Opardum.« Mit einem Blick zu Jommy fügte er hinzu: »Und es ist sehr
anders als alles, was du in Novindus erlebt hast.«
»Es gibt Schulen, wo ich herkomme«, erklärte
Jommy mit einer Spur von Trotz in der Stimme, die
deutlich machte, dass er zuvor nie von einer Schule
gehört hatte. »Ich hab nur nie eine gesehen, das ist
alles.«
Ihr Leben bestand seit ihrer Ankunft im Haus am
Fluss zu gleichen Teilen aus schwerer Arbeit, gegen
die keiner etwas hatte, und Vergnügen. Seit die drei
Jungen zusammen waren, hatte sich ein Band der
Bruderschaft zwischen ihnen gebildet, das dazu beitrug, dass sie
ständig am Rand von irgendwelchem
Ärger standen, wenn sie nicht gerade für das Konklave arbeiteten.
In letzterem Fall befanden sie sich
für gewöhnlich unter Anleitung ihres Stiefvaters oder
eines von Pugs Agenten. Aber wenn man sie sich
selbst überließ, wurde der Mangel an Aufsicht sehr deutlich. Tal
hatte schon mehr als einmal zu ihren Gunsten mit dem einen oder
anderen Beamten der
Stadt verhandeln müssen.
»Es wird euch guttun«, erklärte Caleb. »Tal sagt
mir, ihr Landjungen findet ein wenig zu viel Ärger in
der Stadt. Also werdet ihr von morgen an nicht mehr
hier arbeiten, sondern zur Universität von Roldem
gehen. Man wird euch per Schiff aufbrechen sehen,
nur damit die Schurken und leichten Mädchen, mit
denen ihr euch abgebt, zufrieden sind, aber später am
Abend wird Magnus auftauchen und euch nach Roldem bringen, wo ihr
angeblich mit einem Schiff vor
dem Morgengrauen eingetroffen seid.«
»Roldem!«, sagte Tad plötzlich begeistert. Talwin
hatte erzählt, dass es sich um die zivilisierteste Stadt
der Welt handelte, und da er im vergangenen Monat
für die Erziehung der Jungen zuständig gewesen war,
zählte seine Ansicht bei ihnen viel.
»Ich dachte, du hättest gesagt, wir sollten zur
Schule gehen«, sagte Jommy, der seine Verwirrung
nun nicht mehr verbergen konnte.
Tal lachte. »Es handelt sich auch um eine Schule.
Es ist eine Schule, an der sie versuchen, alles zu studieren, daher
der Name Universität. Ihr werdet zusammen mit den Söhnen des
roldemischen Adels unterrichtet werden und mit denen aus anderen
Ländern, die an der See des Königreichs liegen.« »Nur Söhne?«,
wiederholte Tad. »Keine Töchter?«
Tal schüttelte mitfühlend den Kopf.
Caleb sagte: »Vaters Ansicht über die Erziehung
von Frauen ist … anders als die der meisten Leute
hier, vielleicht sogar einzigartig. Nein, ihr werdet
zusammen mit anderen Jungen untergebracht, von
denen die meisten wahrscheinlich ein paar Jahre jünger sind als
ihr, aber es gibt auch einige in eurem Alter.«
»Untergebracht?«
»Ja, ihr werdet in der Universität zusammen mit
den anderen Studenten unter der Aufsicht der Mönche
wohnen.«
»Mönche?«, fragte Zane leicht entsetzt. »Was für
Mönche?«
Hawkins hüstelte, um sein Lächeln zu verbergen.
»Natürlich die Brüder von La-timsa.«
»La-timsa!«, rief Tad. »Sie sind …«
»Streng?«, bot Caleb an.
»Ja, das sind sie«, stimmte Talwin zu.
»Sehr streng«, fügte Caleb mit einem Blick zu seinem Freund
hinzu.
»Einige behaupten sogar, sie seien ein wenig zu
streng, obwohl ich noch nie gehört habe, dass ein
Student an zu viel Disziplin starb«, stellte Tal fest. »Sie trinken
nichts anderes als Wasser«, jammerte
Zane. »Sie … sie essen altes Brot und harten Käse
und … sie kochen das Rindfleisch.« Er warf einen
sehnsuchtsvollen Blick zur Küchentür.
»Wer ist La-timsa?«, fragte Jommy. »All diese
neuen Namen hier bringen mich durcheinander.« »Ich weiß nicht viel
über die Namen, die man unten in Novindus benutzt …« Tal sah Caleb
an und
zuckte die Achseln.
»Durga«, sagte Caleb.
»Durga!«, rief Jommy. »Sie leben im Zölibat! Sie
schlagen einander zur Buße mit Ruten! Sie legen
Schweigegelübde ab, die Jahre dauern! Und sie leben
im Zölibat!«
Tal begann zu lachen, was seinen kleinen Sohn zu
einem Sturm von Heiterkeit veranlasste.
»Sucht zusammen, was immer ihr braucht, dann
habt ihr eine Stunde, um euch zu verabschieden«,
sagte Caleb, der nun mit den anderen lachte. Dann
wurde seine Stimme wieder ernst. »Ich sage euch das
jetzt, damit es klar ist. Der Tag wird kommen, an
dem ihr dort steht, wo Talwin und ich heute stehen –
im Herzen des Konklaves. Ihr werdet keine einfachen Soldaten sein,
sondern Generale. Und deshalb
geht ihr.«
Damit drehte er sich um und verließ den Raum,
und die drei Jungen sahen einander mit resignierter
Miene an. Tad sagte schließlich: »Nun, es ist immerhin
Roldem.«
»Und sie können uns doch nicht die ganze Zeit in
dieser Universität einschließen, oder?«, fragte Zane. Jommys
trostlose Miene hellte sich plötzlich auf,
und er grinste. »Das sollen sie mal versuchen!« Er
versetzte Tad einen Schlag auf die Schulter.
»Kommt, wir müssen packen, und es gibt ein Mädchen, von dem ich
mich verabschieden möchte.« »Shera?«, fragte Zane.
»Nein«, erwiderte Jommy.
»Ruth«, spekulierte Tad.
»Nein.« Jommy begann, auf die Küche zuzugehen,
hinter der ihr Quartier und ihre Sachen warteten.
»Milandra?«
»Nein«, sagte Jommy und ging durch die Tür. Zane packte Tads Arm.
»Wie macht er das nur?« »Ich weiß es nicht«, sagte sein
Pflegebruder, »aber
er wird damit aufhören müssen, sobald wir nach
Roldem kommen.«
Zane seufzte. »Opardum fehlt mir jetzt schon.« Tad schob die Tür
auf und sagte: »Dir fehlt nur
das gute Essen.«
Roldem
Die Jungen nahmen Aufstellung.
Jommy, Tad und Zane warteten, als sich mehr als ein Dutzend Universitätsstudenten näherten. Die drei Pflegebrüder kamen von den Docks, wo sie angeblich eingetroffen waren, obwohl Magnus sie auf Pugs Bitte zu einem Lagerhaus des Konklaves gebracht hatte. Sie sahen angemessen schmutzig und zerknittert aus, also würde die Geschichte, dass sie einen Monat oder länger bei einer Karawane und dann eine Woche auf See verbracht hatten, glaubwürdig sein. Sie trugen schlichte Hemden und Hosen und Reisesäcke über der Schulter.
Nun sahen sie zu, wie die Studenten sich verteilten, einen lockeren Halbkreis vor ihnen bildeten und sie dabei betrachteten wie Vieh auf dem Markt. Ihr Alter reichte von etwa zwölf bis zu dem der drei Neuankömmlinge – obwohl Jommy annahm, mit seinen beinahe zwanzig der älteste Student zu sein.
Alle Studenten trugen die offizielle Kleidung der Universität: ein schwarzes Filzbarett, das leicht nach links geschoben getragen wurde, ein hellgelbes Hemd, über dem ein langer blauer Wappenrock mit weißen Besätzen an den Rändern hing, der auf beiden Seiten gebunden war, gelbe Hosen und schwarze Stiefel. Jeder Student hielt einen schwarzen Lederbeutel in der linken Hand. Aus der dunklen Haut von einigen ließ sich schließen, dass sie aus Kesh kamen, und auch aufgrund der unterschiedlichen Akzente war klar, dass sie diversen Ländern entstammten.
Einer der älteren Jungen, der dunkles Haar und dunkle Augen hatte und dessen Lächeln an ein höhnisches Grinsen grenzte, ging auf Jommy zu und sah ihn von oben bis unten an. Dann warf er einem blonden Jungen an seiner Seite einen verächtlichen Blick zu und fragte: »Was meinst du, woher sie kommen?«
»Offensichtlich Jungen vom Land«, erwiderte sein Freund. »Das lässt sich an ihrem Geruch nach Dung feststellen.«
Jommy erklärte: »Hör zu, Kumpel. Wir sind gerade nach rauer See von einem Schiff gekommen, und zuvor saßen wir ziemlich lange auf einem Wagen, also kann man behaupten, dass wir nicht gerade bester Laune sind. Warum verschieben wir das ›Lasst uns den Neuen das Leben zur Hölle machen‹ also nicht auf morgen? Was haltet ihr davon?«
»Das Landei will unsere Begrüßung hinauszögern, Godfrey«, sagte der Dunkelhaarige. »Was hältst du davon?«
»Ich denke, das ist ziemlich unverschämt, Servan.« »Es ist also unverschämt, wenn man versucht, freundlich zu sein?«, fragte Jommy, aber das war selbstverständlich eine rhetorische Frage.
Servan kniff seine dunklen Augen zusammen und gab sich nachdenklich. Nach einer Sekunde sagte er: »Ich glaub, wir sollten sofort beginnen.« Er stieß Jommy fest mit dem Finger an. »Warum setzt du dieses Bündel nicht ab, sodass ich gleich mit deiner Erziehung beginnen kann, Bauer, angefangen damit, Höhergestellten keine Widerworte zu geben?«
Jommy seufzte. Er nahm sein Gepäck langsam von
der Schulter und sagte: »Es wird also eine von diesen Geschichten,
wie?« Er stellte den Seesack auf den Boden und grinste, als er
vortrat. »Ich versuche immer, freundlich zu meinen Mitmenschen zu
sein, aber ich habe genug gesehen, um zu wissen, dass man, egal wo
man sich aufhält und ungeachtet der Nationalität, des Rangs, der
Tages- oder Jahreszeit«
– und hier verpasste er Servans Kiefer plötzlich eine rechte
Gerade, die den anderen die Augen verdrehen und ihn auf dem Boden
zusammensacken ließ – »auf Idioten stößt.«
An den blonden Jungen gewandt fügte er hinzu:
»Willst du auch etwas davon?«
»Nein«, antwortete der Junge schockiert.
»Dann wäre es sehr freundlich von dir, uns zu sagen, wohin die
neuen Studenten gehen.«
»Zu Bruder Kynans Büro.« Godfrey zeigte auf den Haupteingang der
Universität. »Dort hinein und dann rechts, die zweite
Tür.«
»Danke, Kumpel«, sagte Jommy lächelnd. »Und wenn dein Freund
aufwacht, sag ihm, er soll sich keine Sorgen machen. Meiner Ansicht
nach hat jeder hin und wieder das Recht, einen Fehler zu machen.
Also können wir morgen ganz von vorn anfangen. Aber wenn er das
nächste Mal versucht, es uns ›Jungen vom Land‹ zu zeigen, verliere
ich wirklich die Geduld.«
Godfrey nickte nur.
Jommy griff nach seinem Reisesack und sagte zu seinen Begleitern:
»Also los.«
Sie gingen über den großen Hof zwischen dem Haupttor und dem
riesigen Gebäude der Königlichen Universität von Roldem und ließen
eine sich leise unterhaltende Gruppe zurück, die sich um ihren zu
Boden gefallenen Kameraden sammelte. Ein jüngerer Student eilte an
Jommys Seite, blickte mit einem wilden Grinsen zu ihm auf und
sagte: »Ich zeige euch den Weg!«
»Guter Junge! Wie heißt du?«
»Grandy, und ihr?«
»Ich heiße Jommy, und das sind Tad und Zane.«
Der Junge wirkte nicht älter als zwölf oder dreizehn, und er hatte
ein mitreißendes Lächeln. Sein Gesicht war sommersprossig und sein
Haar dicht und dunkelbraun. Seine Miene zeigte
Schadenfreude.
»Bist du immer so guter Laune?«, fragte Tad.
Grandy schüttelte den Kopf. »Nein, nur an den Tagen, an denen
jemand Servan eine verpasst.«
»Passiert das oft?«, fragte Zane.
»Nein, heute war das erste Mal, aber ich werde dabei sein und jedes
Mal zusehen, wenn du es wieder tun möchtest.«
»Geht er dir auf die Nerven?«, fragte Jommy, als sie über eine
breite Treppe zu dem massiven Doppeltor kamen.
»Mehr als das. Er schikaniert andere, und … ach, er ist einfach
gemein! Ich weiß nicht warum; er hat alles, was man sich wünschen
kann.«
»Ich bin überrascht, dass ihm noch niemand zuvor eine verpasst
hat«, sagte Jommy.
»Wahrscheinlich, weil sein Onkel der König ist«, erwiderte
Grandy.
Jommy blieb so plötzlich stehen, dass Zane gegen ihn stieß,
stolperte und am Boden landete. Tad starrte Grandy an, die Augen
blinzelnd wie eine Eule, die von einer Laterne geblendet
wurde.
»Sein Onkel ist der König?«, sagte Zane und stand rasch wieder
auf.
»Nicht wirklich«, erklärte der Junge eifrig. »Sein Vater ist eine
Art von Vetter, ein Neffe des Vaters des Königs, des alten Königs,
versteht ihr« – sein Grinsen wurde breiter – »aber er nennt den
König seinen ›Onkel‹, und niemand will dem widersprechen. Immerhin
ist er immer noch ein Prinz und alles.«
Jommy stand reglos da, dann sagte er: »Diesmal habe ich es wirklich
geschafft, wie?«
»Was wirst du tun?«, fragte Zad.
»Na ja, wie ich es sehe, werde ich ihn entweder als neuen Freund
gewinnen, oder ich muss ihn so fürchterlich zusammenschlagen, dass
er es nicht wagt, es anderen gegenüber zu erwähnen.«
Grandy lachte laut. »Ich glaube nicht, dass das funktionieren wird.
Wer ist Euer Schirmherr?«
»Schirmherr?«, fragte Zane. »Wie meinst du das?«
»Wer hat euch in die Universität gebracht?«, fragte der lebhafte
Junge, als sie das Vestibül betraten und sich auf einen großen Flur
zubewegten. »Mein Vater war Kapitän in der Königlichen Flotte, und
mein Großvater war beim alten König – den die Leute den Großvater
des derzeitigen Königs nennen Admiral der südlichen Flotte. Beide
waren hier an der Universität, also mussten sie mich auch nehmen,
praktisch als ihre Hinterlassenschaft. Wenn ich hier fertig bin,
gehe ich zur Marine. Also, wer ist euer Schirmherr?«
Tad versuchte sich zu erinnern, was Caleb ihnen für den Fall gesagt
hatte, dass jemand diese Frage stellte. »Nun, wir stammen aus dem
Tal der Träume, also kennen wir sowohl Leute im Königreich der
Inseln als auch in Groß-Kesh –«
Zane schnitt ihm das „Wort ab und sagte: »Turgan Bey, Meister der
Festung, Kanzler von Groß-Kesh.« Die Jungen waren dem Mann nur
einmal kurz begegnet, als das Konklave vor weniger als einem Jahr
die Intrige gegen den Thron vereitelte, und es war
unwahrscheinlich, dass der Meister der Festung von Groß-Kesh sie
auch nur wiedererkennen würde, aber Pug hatte enge Verbindungen zu
dem Mann, und er hatte offenbar zugestimmt, als Schirmherr der
Jungen zu dienen, ohne Pugs Gründe zu hinterfragen.
Grandy lachte. »Nun, das ist eine hochstehende Persönlichkeit, also
wird es sich Servan gut überlegen, ob er sich bei seinem Vater
beschwert, und selbst wenn er es tut, wird sein Vater es sich gut
überlegen, bevor er euch von jemandem die Kehle durchschneiden
lässt. Hier sind wir.« Nun standen sie vor einer großen Holztür mit
einem kleinen Guckfenster in der Mitte. »Wir sehen uns später.« Er
rannte davon, und die drei Neuankömmlinge wechselten ein
Achselzucken.
Jommy klopfte dreimal, und sie warteten.
Einen Augenblick später öffnete sich das Guckfenster. Sie sahen
eine kleine Spur von Licht und etwas, was wie die Augen eines
Mannes wirkte, dann glitt das Guckfenster wieder zu. Die Tür ging
weit auf, und ein Mönch von La-timsa stand vor ihnen. Er war
hochgewachsen und breitschultrig, hatte eine breite Brust und trug
ein hellbraunes Gewand, das bis zum Boden reichte. Die Kapuze des
Gewands war zurückgeschoben und zeigte seinen riesigen Kopf, der im
Stil seines Ordens glatt rasiert war. »Ja?«
Jommy warf einen Blick zu seinen Begleitern, deren Mienen
klarmachten, dass sie erwarteten, dass er das Wort ergriff, also
sagte er: »Man hat uns angewiesen, hierherzukommen …
Sir.«
Der Mönch erwiderte: »›Bruder‹, nicht ›Sir‹. Kommt
herein.«
Als die drei Jungen im Zimmer waren, fügte er hinzu: »Schließt die
Tür.«
Zane schloss sie, und der Mönch setzte sich hinter einen großen
Tisch. »Ich bin Bruder Kynan, der Vorsteher dieser Universität. Ihr
werdet alle Mönche als ›Bruder‹ und alle Priester, denen ihr
begegnet, als ›Vater‹ ansprechen. Ist das klar?«
»Ja … Bruder«, sagte Tad. Die anderen taten es ihm einen Augenblick
später nach.
»Wer seid ihr?«
Jommy sagte: »Ich bin Jommy, und das sind Tad und Zane.« Er zeigte,
welcher welcher war. »Wir stammen aus –«
»Ich weiß, woher ihr kommt«, erklärte der Mönch. Sein Kopf wurde
von einem dicken Brauenwulst und tiefliegenden Augen dominiert, was
den Eindruck vermittelte, dass er ununterbrochen verärgert war.
Vielleicht, dachte Zane, war er ja tatsächlich ununterbrochen verärgert. »Ihr seid
nicht, was ich erwartete, als ich eine Anfrage des Kaiserlichen
Hofs in Kesh erhielt, drei ›vielversprechende junge Männer‹ mitten
im Jahr aufzunehmen.« Dann schwieg er und sah sie an.
Jommy wollte gerade etwas sagen, als Bruder Kynan ihm das Wort
abschnitt. »Ihr sprecht nur, wenn man euch etwas fragt, ist das
klar?«
»Ja, Bruder«, erwiderte Jommy. Seine Miene zeigte, dass er nicht
froh darüber war, so behandelt zu werden.
»Ihr werdet euch mehr anstrengen müssen als die anderen, um sie
einzuholen. Unsere Erziehung ist die beste der Welt, also
betrachtet es als Privileg, dass ihr zu dieser Universität
zugelassen wurdet. Ihr werdet viele Dinge lernen: Geschichte, die
Künste, die Wahrheit, die La-timsa ihren Auserwählten enthüllt, und
selbstverständlich auch militärische Taktik. Roldems beste junge
Adlige studieren hier und bereiten sich darauf vor, dem Land in der
Marine oder am Königlichen Hof zu dienen und, wie es die Pflicht
aller ist, die ihre Studien beenden, zehn Jahre im Dienst zu
verbringen, bevor sie zu ihren Familien zurückkehren. Viele bleiben
ihr ganzes Leben im Dienst der Krone.«
Tad und Zane sahen einander besorgt an, denn niemand hatte etwas
über Dienst in Roldem gesagt. Was sie über das Konklave wussten,
schloss nicht aus, dass Pug ihnen befahl, Jahre am Königlichen Hof
zu verbringen oder Roldems Feinde zu Land oder See zu bekämpfen,
aber es wäre weniger schockierend gewesen, wenn jemand es vorher
erwähnt hatte. Als hätte er ihre Gedanken gelesen, fuhr Bruder
Kynan fort: »Jene von euch, die keine Bürger von Roldem sind, haben
nicht das Privileg zu dienen, aber man erwartet, dass ihr eine
große Summe in Gold hinterlegt.« Er betrachtete Jommy von oben nach
unten. »Dein Anblick passt nicht zu deiner Stellung, aber das ist
ohne Bedeutung. Bald werdet ihr Bruder Timothy sehen, der euch
diese Kleidung abnehmen und sie aufbewahren wird. Von nun an werdet
ihr die Kleidung der Universität tragen. Es gibt keinen Rang unter
den Studenten, also sind keine Titel erlaubt. Ihr sprecht einander
nur beim Namen an und die Brüder und Väter sowohl mit Titel als
auch Namen. Unsere Regeln sind streng, und wir erlauben keinen
Ungehorsam. Und nun zieht eure Hemden aus.«
Die Jungen wechselten kurze Blicke, dann ließen sie ihre Bündel
fallen und legten die Hemden ab. »Kniet euch vor den Tisch«, sagte
Bruder Kynan. Wieder sahen sie einander an. »Kniet euch hin!«, rief
der große Mönch, und die Jungen taten es.
Bruder Kynan ging zu einer Ecke des Raums und kehrte mit einer
langen Rute aus dunklem Holz zurück. »Diese Rute«, sagte er und
zeigte sie ihnen, »ist das Instrument der Bestrafung. Jeder Verstoß
wird euch Schläge damit einbringen. Die Anzahl der Schläge wird
entsprechend der Schwere des Verstoßes bestimmt.« Plötzlich schlug
er zu, traf Jommy an den Schultern, und dann Zane und Tad. Alle
drei Jungen zuckten zusammen, aber keiner schrie. »Nun wisst ihr,
was euch bevorsteht. Habt ihr irgendwelche Fragen?«
Jommy sagte: »Eine, Bruder.«
»Sprich.«
»Was ist die Strafe dafür, einen anderen Studenten zu
schlagen?«
»Zehn Streiche.«
Jommy seufzte. »Dann solltet Ihr lieber gleich weitermachen,
Bruder, denn ich habe einen Burschen namens Servan geschlagen, ein
paar Minuten, bevor ich hierherkam.«
»Gut«, sagte der Mönch. Er schlug Jommy zehnmal fest auf den
Rücken, während Tad und Zane auf den Knien blieben und jedes Mal
zusammenzuckten, wenn die Rute niederging. Als er fertig war, sagte
er: »Steht auf und zieht eure Hemden wieder an.«
Sie taten, was man ihnen gesagt hatte, und Bruder Kynan fuhr fort:
»Du bist intelligenter, als du aussiehst, Jommy. Die Strafe dafür,
sich nicht selbst zu melden, ist eine Verdoppelung der Schläge. Du
hättest zwanzig bekommen, wenn mir ein anderer von der Sache mit
Servan erzählt hätte.«
Jommy nickte nur.
»Geht den Flur entlang und zur letzten Tür links, wo ihr Bruder
Timothy finden werdet. Er wird sich um euch kümmern.«
Tad und Zane zogen ihre Hemden mit leichtem Unbehagen wieder an,
aber Jommy warf seins einfach über, griff nach seinem Reisesack und
verließ das Zimmer. Im Flur fragte Tad: »Tut dir nicht der Rücken
weh?«
»Selbstverständlich«, sagte Jommy. »Aber mein Vater hat mich
schlimmer verprügelt, als ich noch jünger als Grandy war, und ich
gebe dieser Art von Mann nicht gern die Befriedigung, mich
zusammenzucken zu sehen.«
»Was für eine Art von Mann ist er denn?«, fragte Zane.
»Es gibt zwei Arten von Männern, die einen bestrafen, alter Junge.
Solche, die wissen, dass es notwendig ist, und solche, denen es
Spaß macht. Bruder Kynan gehört zu der Sorte, der es Spaß macht. Je
mehr man zeigt, wie weh es tut, desto mehr Spaß macht es
ihm.«
Sie erreichten die Tür und klopften dreimal. Eine Stimme von
drinnen sagte: »Steht nicht einfach draußen im Regen! Kommt
rein!«
Zane sah sich um. »Regen?«
Jommy lachte und öffnete die Tür. Der Raum dahinter war größer als
Bruder Kynans Büro, aber diesmal handelte es sich nicht um einen
kargen Arbeitsplatz, sondern um so etwas wie ein Lagerhaus. An der
Wand links von ihnen gab es Regale vom Boden bis zur Decke, und auf
jedem standen kleine Holzkisten mit jeweils einem sorgfältig
angebrachten Namen und einer Nummer. Es musste hunderte von diesen
Kisten geben, denn der Raum erstreckte sich weit nach hinten. Ein
schmaler Weg verlief zwischen den Regalen und der nackten rechten
Wand. Das einzige andere im Raum waren ein kleiner Tisch und ein
Stuhl, auf dem ein Mönch saß. Der alte, faltige Mann war vielleicht
der winzigste Mensch, den die Jungen je gesehen hatten; selbst ein
durchschnittlicher Zwerg hätte ihn überragt. Sein Kopf war rasiert
wie der von Bruder Kynan, aber er hatte einen langen roten Bart mit
grauen Strähnen. Die Augen des Mannes waren lebhaft blau, und sein
Gesicht schien zu einem dauerhaften Lächeln verzogen zu sein. »Neue
Jungen!«, rief er begeistert. »Ich hörte, dass ein paar Neue
kommen! Das ist wunderbar!«
»Bruder Kynan hat uns angewiesen, hierherzukommen«, sagte Tad.
»Seid Ihr Bruder Timothy?«
»Ja, der bin ich in der Tat, der bin ich.« Er lachte leise weiter.
»Also gut, dann lasst uns beginnen. Zieht euch aus.« Er stand auf
und huschte den Gang entlang, und die Jungen starrten einander
überrascht an.
»Vielleicht erhalten wir hier unsere Uniformen«, sagte
Zane.
»Nein«, erwiderte Tad. »Wirklich?«
Jommy verzog ein wenig das Gesicht, als er sein Hemd auszog, und
als Bruder Timothy zurückkehrte und drei Holzkisten vor sich
gestapelt trug, die drohten, bei jedem seiner Schritte umzufallen,
standen die Jungen nackt vor ihm.
Tad sagte: »Hier, Bruder, ich helfe Euch«, und griff nach der
obersten Kiste.
»In Ordnung«, sagte der Mönch. »Ihr nehmt jeder eine.« Als sie
jeder eine Kiste hielten – in der sich Hemden, Hosen, Mützen und
Stiefel befanden –, sagte er: »Nun, steht nicht dumm herum. Zieht
euch an. Wenn etwas zu klein oder zu groß ist, werden wir es
umtauschen.«
Sie brauchten nur eine Minute, um zu erkennen, dass er Jommy eine
viel zu kleine und Zane eine viel zu große Uniform gegeben hatte.
Als sie tauschten, kamen sie zu dem Schluss, dass es einigermaßen
passte. Die Stiefel waren eine andere Sache, und der kleine Mönch
musste mehrmals weit nach hinten in den Lagerraum gehen, um Stiefel
zu finden, die ihnen passten. Aber am Ende trugen alle die gleichen
Sachen, die sie bei den anderen gesehen hatten.
Tad musste plötzlich lachen, und Jommy sagte: »Was ist?«
»Es tut mir leid, Jommy, aber …«
»Du siehst vollkommen lächerlich aus«, erklärte Zane.
»Na ja, ihr wirkt auch nicht gerade, als würdet ihr die Mädchen
rings um den Brunnen in Kesh, an dem ich euch begegnet bin, in
absehbarer Zeit beeindrucken.«
Tad lachte noch mehr.
»Mädchen«, sagte Bruder Timothy. »Ihr dürft nicht über Mädchen
reden. Das ist nicht gestattet.«
Alle drei hörten auf zu lachen, und Tad fragte: »Keine
Mädchen?«
»Nein«, erwiderte der Mönch. »Wir wissen, wie Jungen sind, ja, das
wissen wir. Dass wir im Zölibat leben, bedeutet nicht, dass wir uns
nicht erinnern, obwohl es nicht guttut, zu viel daran zu denken.
Als ich noch ein Junge war, bevor ich meine Berufung erhielt …« Er
ließ den Gedanken sich selbst beenden. »Nein, keine Mädchen. Ihr
müsst lernen, ja, lernen und üben, viel üben. Aber keine
Mädchen.«
Der seltsame kleine Mönch schien nun vollkommen verwirrt zu sein,
und Jommy fragte: »Bruder, was geschieht als Nächstes?«
»Als Nächstes?«, fragte der Mönch.
»Was tun wir als Nächstes?«, fragte Jommy genauer.
»Oh, was ihr als Nächstes tut!«, sagte der Mönch und kehrte zu dem
heiteren Zustand zurück, in dem die Jungen ihn gefunden hatten.
»Nun, ihr lernt, und ihr übt.«
Tad verdrehte die Augen, während Zane sich entschloss, die Dinge
aufzuklären. »Er meint, was wir jetzt gleich tun – sind wir hier
fertig?«
»Ja, ja. Ihr kommt hierher, wenn ihr Ausrüstung benötigt, und wenn
ihr ein Kleidungsstück zerreißt oder neue Stiefel braucht – obwohl
der Vater es nicht mag, wenn ihr eure Stiefel abnutzt.«
»Welche Art Ausrüstung?«, fragte Tad.
»Oh, die Ausrüstung!«, rief der kleine Mönch, und schon war er
wieder hinten im Raum verschwunden. Einen Augenblick später kehrte
er mit drei von den seltsamen Lederbeuteln zurück, die sie schon
bei den anderen Studenten gesehen hatten. »Hier ist eure
Ausrüstung. Das hier sind Studentenbeutel. Schaut
hinein!«
Die Jungen entdeckten, dass die Beutel zwei weiche Lederschläuche
waren, die zusammengenäht waren, einer größer als der andere,
sodass er eine Art Verschluss bildete und dafür sorgte, dass der
Inhalt drinnen blieb. Sie fanden ein kleines Messer, einen kleinen
Tiegel mit einem Verschluss, ein halbes Dutzend Federn und ein
Bündel Papier. Es gab auch noch andere Gegenstände, die in Papier
gewickelt waren, das mit einer Art Öl oder Wachs behandelt war, und
ein kleines Kästchen.
Jommy setzte dazu an, das Kästchen herauszuholen, aber Bruder
Timothy sagte: »Später. Das könnt ihr euch später ansehen. Ich
wollte mich nur überzeugen, dass ich euch keine leeren Beutel
gegeben habe. Und nun müsst ihr lernen, klein zu schreiben.«
»Klein?«, fragte Zane.
»Damit das Papier länger reicht«, erwiderte Timothy. »Wohin gehen
wir jetzt, Bruder?«, fragte Jommy.
»Ihr geht zu den Schlafsälen. Fragt nach Bruder Stephen, er führt
dort die Aufsicht.« Mit einem Winken sagte er: »Also los,
verschwindet.«
»Bruder«, fragte Tad, als sie auf die Tür zugingen, »wo sind diese
Schlafsäle?«
»Sie befinden sich im anderen Flügel des Gebäudes. Ihr geht zurück
in den Flur, dann nach rechts, und hinter der letzten Biegung links
werdet ihr Bruder Stephen finden. Er kümmert sich um
euch.«
Sie marschierten los, und am Ende des Flurs erreichten sie einen
Raum ohne Tür. Es war eine riesige Halle, und an allen Wänden
standen Reihen von Betten. Am Fuß jedes Betts gab es eine
Holztruhe.
Den Gang zwischen den Betten entlang kam ein weiterer Mönch auf sie
zu, dieser ohne Bart. »Ihr seid die Neuen.« Das war eine Aussage,
keine Frage.
»Ja«, erwiderte Zane und fügte rasch »Bruder« hinzu.
»Ich bin Bruder Stephen und führe hier die Aufsicht. Ich bin für
alle Schüler zuständig, die sich nicht im Unterricht oder beim
Gebet befinden oder eine Aufgabe von einem Mönch oder Priester
erhalten haben. Folgt mir.« Er drehte sich um und führte sie zum
Ende des Raums. Er zeigte auf ein einzelnes Bett rechts und sagte:
»Einer von euch wird dort schlafen.« Dann zeigte er auf zwei Betten
links im Raum. »Die anderen beiden schlafen dort.«
Die Jungen sahen einander an, zuckten die Achseln, und Tad und
Jommy gingen nach links, während Zane das Bett rechts nahm. Als
Zane sich darauf setzen wollte, sagte der Mönch: »Nicht
hinsetzen!«
Zane richtete sich schnell wieder auf. »Tut mir leid,
Bruder.«
»Schaut in die Truhen.«
Das taten sie, und in jeder Truhe fanden sie eine Stiefelbürste,
einen Kamm und ein langes raues Leinentuch, dazu einen Rasierer und
ein Stück harte Seife. Zane setzte dazu an, in die Truhe zu
greifen, um sich den Kamm anzusehen, und der Mönch sagte: »Nichts
anfassen!«
Zanes Miene war schmerzerfüllt. »Tut mir leid, Bruder … zum zweiten
Mal.«
»Seht euch an, wie die Gegenstände liegen. Jeden Morgen werdet ihr
aufstehen, euer Bett machen und ins Bad gehen. Dort werdet ihr euch
waschen, das Haar eingeschlossen, euch rasieren und danach einem
Diener das Handtuch geben, der euch seinerseits ein trockenes geben
wird. Dann kehrt ihr hierher zurück. Eure Kleidung wird am Abend
zuvor gefaltet und in die Truhe gelegt worden sein. Ihr werdet euch
anziehen und dann die anderen Gegenstände zurücklegen, und zwar
genau so, wie ihr sie vor euch seht. Wenn ein Gegenstand falsch
zurückgelegt wurde, erhaltet ihr fünf Schläge mit der Rute. Wenn
ein Gegenstand fehlt, zwanzig Schläge. Verstanden?«
»Ja, Bruder.«
»Ihr dürft euch erst nach dem Abendgebet auf euer Bett setzen, eine
Stunde bevor ihr schlaft. Wenn einer von euch vorher sitzend
angetroffen wird, erhält er fünf Schläge.« Er sah die drei an und
fügte hinzu: »Und jetzt sucht den Vorsteher. Er wird euch weitere
Anweisungen geben.«
Zane hielt einen Augenblick inne und starrte die Truhe an, dann
senkte er den Blick. Bruder Stephen wandte sich zum Gehen, aber
dann blieb er noch einmal stehen. »Wer von euch hat Servan
geschlagen?«
Jommy drehte sich mit bedauernder Miene zu dem Mönch um. »Das war
ich, Bruder.«
Bruder Stephen sah Jommy lange an, sagte »Hmmm«, wandte sich dann
endgültig ab und ging.
Als sie den Schlafsaal verließen, fragte Tad: »Zane, was hast du so
lange angestarrt?«
»Ich habe versucht mir einzuprägen, wo alles hingehört. Ich bin
nicht scharf auf die Rute.«
»Du gewöhnst dich daran«, sagte Jommy. »Außerdem hast du eine
Stunde, bevor wir heute Nacht einschlafen, um die Sachen in der
Truhe anzustarren.«
»Ja, stimmt«, erwiderte Zane, aber er klang alles andere als
begeistert.
Die drei Jungen fragten sich, wohin ihr Pflegevater sie hier
gebracht hatte.
Läuterung
Valko machte sich auf Gewalttätigkeit gefasst.
Der Krieger, der ihm gegenüberstand, war alt, und seine Narben sahen aus wie Ehrenzeichen, aber seine Haltung zeigte, dass er noch kein Ältester war, der darauf wartete, dass ein Sohn ihn in einem letzten Dienst zum Dunklen Gott schickte. Dieser Mann hatte noch viele Schlachten in sich.
Valko stand inmitten des lang gezogenen Raums, der identisch angelegt war wie der Kampfboden in der Halle der Prüfung in der Burg von Valkos Vater, aber viel, viel größer. Fünfhundert Reiter konnten auf der Galerie sitzen und ein Dutzend Zweikämpfe gleichzeitig abgehalten werden. Valko warf einen Blick nach rechts und einen nach links und sah, dass sich auch andere junge Dasati auf den Kampf vorbereiteten.
Der alte Krieger trug die Rüstung der Geißel, die beinahe identisch war mit der, die die Sadharin benutzten: ein dunkelgrauer, offener Helm, ein Brustharnisch, Arm- und Beinschienen, aber statt des hohen Federbuschs der Sadharin war sein Helm von einem langen Stachel gekrönt, an dem zwei lange Bänder aus blutorangefarbenem Tuch hingen. Wenn er etwas sagte, klang seine Stimme gebieterisch, obwohl er sie nicht hob. »Ihr werdet sterben.« Mehrere junge Männer spannten sich an, und ein paar Hände packten die Schwerter fester. »Aber nicht heute.«
Langsam trat er vor die sechzehn jungen Krieger, die in einem Halbkreis standen und einander bei seinen Worten in die Augen sahen. »Ihr seid zu mir gekommen, weil ihr eure erste Prüfung überlebt hat. Überleben ist gut. Ihr könnt dem TeKarana nicht dienen, wenn ihr tot seid. Ihr könnt keine starken Söhne und schlauen Töchter zeugen, es sei denn, ihr überlebt. Und ihr wollt starke Söhne, die eines Tages hier stehen werden, um ihre Ausbildung zu beginnen, und kluge Töchter, die eure Enkel verstecken, bis sie für ihre Prüfungen bereit sind. Dies ist der Weg der Dasati.«
»Dies ist der Weg«, wiederholten die jungen
Krieger, wie es dem Ritual entsprach.
»Das Zweitruhmreichste, was ihr tun könnt, besteht darin, tapfer
für das Reich zu sterben, wenn es keine andere Möglichkeit gibt.
Das Ruhmreichste besteht darin, die Feinde des Kaiserreichs zu
töten. Jeder Narr kann auf dumme Weise sterben. Dummheit ist
Schwäche. Es liegt kein Ruhm darin, wie ein Idiot zu sterben. Dies
ist der Weg der Dasati.«
»Dies ist der Weg.«
Der alte Krieger fuhr fort: »Ich bin Hirea, ein Reiter der Geißel.
Einige von euch sind Söhne der Geißel.«
Mehrere junge Krieger meldeten sich mit einem Ruf.
»Aber nicht mehr«, erklärte Hirea und hob die Stimme gerade genug,
um sein Missfallen über diese Äußerungen kundzutun. »Ihr seid keine
Geißel mehr. Ihr seid keine Söhne der Sadharin mehr. Ihr seid weder
Kalmak noch Schwarzer Donner, weder Dunkelreiter, Blutflut noch
Remalu. Was immer ihr dachtet, als ihr hier eintraft, gehört der
Vergangenheit an. Jetzt gehört ihr mir, bis ich euch für genügend
ausgebildet halte, um zu euren Vätern zurückzukehren, oder ihr tot
auf dem Sand unter euren Füßen liegt.« Er zeigte zur Betonung auf
den Sand. »Hier könnt ihr euer Erbe als wahre Todesritter
beanspruchen und euren Vätern oder dem Dunklen Gott dienen. Ich
werde euch mit Vergnügen zu einem von ihnen schicken.« Er sah von
einem Gesicht zum anderen. »Jeder von euch wird einem anderen
zugesellt werden. Ihr werdet das Quartier teilen. Von diesem
Augenblick an wird dieser Krieger euer Bruder ein. Ihr werdet mit
Freuden euer Leben für ihn geben, und er für euch. Es zählt nicht,
ob eure Väter Feinde sind. Er ist euer Bruder. Das ist die erste
Lektion. Und nun …« Er zeigte rasch auf die beiden jungen Krieger
an jedem Ende des Halbkreises. »Du und du, tretet vor.« Sie taten
es, und er zeigte erneut auf sie. »Eure Namen.«
Jeder Krieger sagte seinen Namen, und Hirea erklärte: »Ihr seid nun
Brüder, bis ihr diesen Ort verlasst. Danach ist es euch
freigestellt, einander umzubringen, aber bis dahin werdet ihr
füreinander sterben.« Er deutete über seine Schulter. »Stellt euch
hinter mich.«
Er wiederholte das mit den nächsten beiden Jungen und denen danach,
bis er zu Valko kam. Er wurde mit einem Sohn der Remalu
zusammengebracht, der Seeleth hieß, Sohn des Silthe, Herr der
Rianta. Valko schwieg, als die verbliebenen Krieger miteinander
zusammengetan wurden, aber er hatte seine Zweifel, was seinen neuen
»Bruder« anging. Die Remalu waren auf ganz Kosridi als Fanatiker
bekannt. Viele ihrer jungen Leute gaben den Weg des Schwerts auf,
um Todespriester zu werden. Dem Dunklen Gott zu dienen, war eine
Ehre, und niemand würde etwas anderes sagen, aber viele empfanden
das als weniger männlichen Weg. Priester starben an Altersschwäche
und hatten keine Söhne, die sie anerkennen konnten. Der Sohn eines
Priesters wurde zu einem Geringeren, und ein Krieger würde lieber
sterben, als ein Kind am Leben zu lassen, damit es ein Geringerer
wurde. Sollten die Geringeren doch ihre eigene Art
erhalten.
Es hieß auch, dass viele Remalu zum Orden der Todesmagier zählten.
Sie waren verwandt mit mächtigen Lords auf anderen Planeten und
außerdem mit Beratern des TeKarana. Von den Familien auf Kosridi
waren die Remalu die verhasstesten, die am meisten gefürchteten und
die, denen man allgemein am meisten misstraute.
Seeleth flüsterte: »Viele von ihnen werden bald sterben, mein
Bruder.«
Valko sagte nichts, sondern nickte nur knapp und höflich.
Als acht Paare von Brüdern vor ihm standen, nickte Hirea und zeigte
auf das erste Paar, dann ließ er die Hand in einem Bogen schweifen,
als er sie alle ansprach. »Einige von euch haben bereits einen Raum
mit zwei Betten erhalten«, sagte Hirea. »Jene, die links von mir
standen, als ich euch rief, bringen ihre Sachen in den Raum, den
Euer Bruder bewohnt. Nehmt die Höchststands-Mahlzeit ein, dann
kehrt hierher zurück zu eurem ersten Ausbildungskampf.
Geht!«
Die jungen Krieger setzten sich in Bewegung, und bald schon fand
sich Valko in seinem Quartier, wo er zusah, wie Seeleth seine
wenigen Sachen in eine Truhe am Fuß des zweiten Bettes legte. Valko
bemerkte, dass er ein paar mystische Gegenstände mitgebracht hatte,
von der Art, wie eine besorgte Mutter sie ihrem Sohn gab.
Vielleicht war Seeleths Mutter ja aus dem Versteck gekommen und
hatte einen Ehrenplatz am Hof seines Vaters eingenommen, oder sie
hatte sie ihm gegeben, bevor er das Versteck verließ. Aber ein paar
der Gegenstände schienen einen erheblich dunkleren Aspekt an sich
zu haben, und Valko spürte die Magie, die von ihnen ausging.
Schutzzauber? Glückszauber?
Seeleth grinste Valko an und setzte sich aufs Bett. Für Valko sah
er aus wie ein hungriger Zarkis – die gefürchteten nächtlichen
Jäger der Ebenen. »Wir werden Großes vollbringen, Valko«, flüsterte
er.
»Warum flüsterst du?«
»Vertraue niemandem, Bruder.«
Valko nickte. Wenn das der Fall ist, dachte
er, warum soll ich dann einem »Bruder« trauen,
der das nur sein wird, bis ich wieder gehe? Seeleth war
offenbar ein seltsamer Kerl. Je mehr er darüber nachdachte, desto
eher hielt Valko ihn für die Art Mann, die zum Todespriester wird.
»Gehen wir zur Höchststands-Mahlzeit«, sagte er und stand
auf.
Auch Seeleth erhob sich, aber er kam näher und sah seinem neuen
»Bruder« in die Augen. Dies war entweder ein Akt des Vertrauens
oder der Herausforderung. Da keine Waffen gezogen wurden, nahm
Valko an, dass Seeleth sich ihm anvertrauen wollte. »Wir werden
Großes vollbringen«, flüsterte er. »Vielleicht werden wir
diejenigen sein, die das Weiße finden und vernichten.«
»Das Weiße ist ein Mythos«, erwiderte Valko. »Und sich solche Wesen
vorzustellen ist … Wahnsinn!«
Seeleth lachte. »Solcher Kummer wegen eines Mythos!«
Valko spürte, wie er wütend wurde. »Wir sind hier, um ausgebildet
zu werden, Bruder, der Ehrgeiz eines Sohns
der Remalu ist mir gleich, und ich verschwende auch keine Zeit mit
hübschen Visionen einer ruhmreichen Suche; das ist etwas für
Kinder, die im Versteck miteinander spielen. Mein Vater hat mir
befohlen, hierherzukommen, also bin ich gekommen. Hirea befiehlt
mir, dich Bruder zu nennen und für dich zu sterben, wenn das nötig
sein sollte. Ich gehorche. Aber ärgere mich nicht mit deinen
Spielchen, Bruder, denn dann werde ich dich
umbringen.«
Seeleth lachte erneut. »Du antwortest, wie es sich für einen echten
Dasati-Krieger gehört«, sagte er, dann ging er in Richtung
Speisehalle. Valko blieb einen Moment verwirrt stehen und fragte
sich, wozu das alles gut gewesen war. Das Weiße stellte ein
obszönes Konzept dar, sogar eine Blasphemie, etwas, von dem man
nicht sprach, wenn man die harsche Realität des Lebens der Dasati
überstehen wollte. Zuzugeben, dass das Weiße existierte, bedeutete
zuzugeben, dass der Dunkle nicht allmächtig war. Und dennoch, wenn
es tatsächlich existierte und man irgendwie der Krieger sein
könnte, der ihm ein Ende machte, würde das zweifellos Ruhm
einbringen. Aber wie konnte es das Weiße geben, solange der Dunkle
allmächtig herrschte? Schon die Frage war ein Affront gegen die
Logik. War es anstößig genug, um zu rechtfertigen, dass er Seeleths
Kopf nahm, ohne sich gegen Hirea verteidigen zu müssen? Einen
Remalu zu töten, würde sein Ansehen bei seinem Vater erhöhen. Er
dachte allerdings nur einen Augenblick darüber nach, dann schob er
die Frage beiseite und folgte Seeleth zum Höchststands-Mahl.
Es war ein winziger Fehler gewesen, aber einer,
der einen jungen Krieger auf dem Sand zurückließ. Sein Blut quoll
zwischen den Fingern hervor, die er in seine Wunde gekrallt
hatte.
Hirea ging auf ihn zu und blickte zu dem verwundeten jungen Mann
hinunter. Sein Ausbildungsgegner tat das Gleiche, seine Miene eine
undurchschaubare Maske. Hirea wandte sich an den Sieger des Kampfes
und sagte: »Geh und stell dich dorthin.« Er zeigte auf eine Stelle
am Rand des Kampfbodens.
Dann schwieg er einen Moment, und schließlich
fragte er: »Was brauchst du?«
Der verwundete junge Krieger konnte kaum sprechen, während er
zusammengerollt auf dem Boden lag und die Hände auf den Bauch
presste. »Beende es.«
Hireas Hand zuckte zum Griff seines Schwerts, und bevor die anderen
jungen Krieger die Bewegung auch nur begreifen konnten, wurde das
Schwert abwärtsgerissen und beendete das Leben des jungen Mannes.
Dann begannen mehrere Schüler über sein Unglück zu lachen. Valko
und Seeleth waren nicht darunter. Hirea blickte zu denen auf, die
lachten, und sagte: »Er war schwach! Aber nicht so schwach, dass er
um einen Behandler gebeten hätte.« Er warf einen Blick nach unten.
»Das hier ist nicht komisch. Es ist nicht bedauernswert, aber auch
nicht komisch.« Er bedeutete mit der freien Hand, dass die Leiche
des Jungen weggebracht werde, und die beiden Geringeren in der Nähe
beeilten sich, das nun leblose Ding aufzulesen und zum Todesraum zu
bringen, wo die Verwender die Leiche zerlegen und alles Nützliche
herausnehmen würden. Der Rest würde unter das Viehfutter gemischt.
Auf diese winzige Weise würde er immer noch dienen.
»Gibt es jemanden hier, der etwas nicht versteht?« Als keiner
sprach, sagte Hirea: »Es ist erlaubt, Fragen zu stellen; ihr werdet
nicht lernen, wenn ihr schweigt.«
Ein Krieger auf der anderen Seite des Raums fragte: »Hirea, was
hättet Ihr getan, wenn er um einen Behandler gebeten
hätte?«
Hirea steckte sein Schwert ein. »Ich hätte zugesehen, wie er
langsam verblutet. Sein Leiden wäre Belohnung für seine weitere
Schwäche gewesen.«
»Und das wäre wirklich komisch gewesen«, sagte Seeleth.
Hirea hörte das und wandte sich ihm zu. »Ja, das wäre es.« Er
lachte kurz, ein harsches, bellendes Geräusch, dann rief er: »Kehrt
auf eure Plätze zurück!« Zu dem Gegner des Toten sagte er: »Ich
werde dein Partner bei der Ausbildung sein, bis der Nächste stirbt,
dann wird derjenige, der ihn umgebracht hat, dein neuer Bruder
sein.« Er stellte sich dem jungen Mann gegenüber, der gerade seinem
Gegner eine tödliche Wunde zugefügt hatte, und sagte: »Gut
getötet.«
Der junge Mann nickte, aber er wagte nicht zu lächeln, und seine
nervöse Miene zeigte, dass er sich nun fragte, ob er den Rest der
Ausbildung dieses Tages überleben würde.
Die jungen Krieger wurden mitten in der Nacht von Dienern geweckt. Die Geringeren gingen sehr vorsichtig vor, betraten leise jeden Raum und flüsterten den jungen Männern zu, sie sollten aufstehen, dann traten sie schnell wieder weg, damit keiner der plötzlich erwachenden jungen Männer seinen Zorn an dem nächststehenden Ziel ausließ. Aber die Botschaft wurde gehört: Hirea sagt, Ihr sollt Euch sofort zum Reiten fertig machen.
Die Krieger schliefen, wie es sich für Dasati gehörte, in dunklen Nachthemden, die Waffen griffbereit. Rasch kehrten Diener in jeden Raum zurück, um den jungen Kämpfern zu helfen, zogen ihnen die Nachthemden aus, halfen ihnen, einen schlichten Lendenschurz, Fuß- und Knöchelwickel und ein leichtes Unterhemd anzulegen. Dann kamen gepolsterte Hosen und eine leichte Jacke, dann die Rüstung. Jeder Krieger, der die Ausbildung überlebte, würde vollständige Kleidung vorfinden, die sich für alle Gelegenheiten eignete, wenn er nach Hause zurückkehrte, aber während der Ausbildung war das alles, was sie hatten: Kampfkleidung und ein Nachthemd. Selbst während ihres Unterrichts bei den Ausführenden und Erleichterern trugen sie ihre Rüstung.
Die jungen Kämpfer eilten zum Stall, wo die Lakaien bereits die wartenden Varnins gesattelt hatten. Die Reittiere scharrten am Boden und schnaubten erwartungsvoll, weil sie schon annahmen, dass es auf die Jagd ging. Valko trat zu seinem Reittier, einem jungen Weibchen, das noch nicht geworfen hatte, und tätschelte ihm fest den Hals, bevor er in den Sattel sprang. Der große Kopf des Varnin hob sich leicht in Anerkennung, dass ihr Reiter anwesend war, dann schnaubte sie, als er die Zügel nahm und einmal fest daran riss, um zu zeigen, dass er das Sagen hatte. Varnins waren dumme Tiere, und man musste sie ununterbrochen daran erinnern, wer die Kontrolle hatte. Die besten Reiter wählten männliche Tiere wegen ihrer Aggressivität, aber die meisten saßen auf Wallachen oder jungen Weibchen.
Valko wartete, während die anderen aufstiegen – insgesamt zehn von den ursprünglichen sechzehn. Die sechs, die gestorben waren, hatten dieses Schicksal verdient, wie Valko wusste, aber etwas am Tod des Letzten, eines jungen Mannes namens Malka, beunruhigte Valko. Malka hatte mit Seeleth geübt und eine kleine Wunde davongetragen, nur einen Schnitt in den fleischigen Teil des Unterarms, und hatte nicht einmal sein Schwert fallen lassen. Wie immer bei solchen Wunden gestattete man es ihm, sich selbst zu verbinden. Valko hatte gesehen, wie Malka Seeleth das Zeichen für eine Pause gab, und Seeleth war zurückgetreten und hatte die Unterbrechung damit anerkannt. Malka hatte begonnen, das Schwert von der rechten Hand in die linke zu nehmen, und Seeleth hatte gewartet, und in dem Augenblick, als Malka sich am wenigsten verteidigen konnte, hatte der Sohn der Remalu zugeschlagen und seinem Gegner einen Hieb gegen den Hals versetzt, der ihn sofort umbrachte.
Niemand hatte etwas gesagt. Valko konnte sich nicht vorstellen, dass Hirea es nicht gesehen hatte, denn nichts entging dem Blick des alten Kriegers. Und dennoch hatte er nichts unternommen. Valko hatte erwartet, dass Seeleth getadelt, vielleicht sogar getötet würde, denn er hatte gegen die Regeln des Zweikampfs verstoßen, aber Hirea hatte dem Geschehen den Rücken zugewandt, als hätte er nichts gesehen.
Das beunruhigte Valko, aber nicht genug, um eine Frage zu stellen. Fragen waren gefährlich; zu viele Fragen bedeuteten, dass ein Krieger seiner selbst unsicher war. Mangel an Sicherheit war Schwäche. Schwäche war Tod.
Dennoch, es beunruhigte ihn; jemand befolgte die Regeln nicht, wurde aber nicht bestraft. Worin bestand hier die Lektion?, fragte sich Valko. Dass ein Sieg die Regeln außer Kraft setzte?
Hirea stellte sich in den Steigbügeln des alten Männchens auf, das ebenfalls ein Veteran war und so viele Narben trug wie der Krieger selbst. Er gab ein Zeichen, und die Reiter verließen den Stallbereich und sammelten sich am Tor des Stallhofes. Hirea bat mit einer Handbewegung um Ruhe und sagte dann: »Ein Krieger muss stets bereit sein, jeden Augenblick des Tages und der Nacht dem Ruf zu folgen. Also reiten wir!«
Die jungen Krieger folgten ihrem Lehrer, als er sie die lange, gewundene Straße von der alten Festung wegführte, in der ihre Ausbildung stattfand. In vergangenen Zeitaltern hatte die Festung einem Häuptling eines alten Stammes gehört, dessen Name nun nur noch den Archivaren bekannt war. Der wechselhafte Sand, der die Grundlage der Gesellschaft der Dasati darstellte, hatte eine weitere Familie verschluckt. Vielleicht hatte eine Gruppe von Familien das Bündnis gewechselt, ihren ehemaligen Verbündeten einem harschen Schicksal überlassen und selbst mächtigere Gönner gesucht. Vielleicht war ein Gönner von seinen Abhängigen verlassen worden, die mehr Macht in neuen Bündnissen suchten.
Valko erkannte, dass er es nie erfahren würde, solange er keinen Archivar fragte; etwas, wozu er kaum Zeit und woran er noch weniger Interesse hatte. Er wartete, dass seine Sinne sich der Nacht anpassten. Er zog diese Tageszeit vor: Der Mangel an sichtbarem Licht wurde durch seine Fähigkeit, Hitze zu sehen, mehr als ausgeglichen, und in geringerem Maß konnte er auch Bewegungen spüren. Wie alle von seinem Volk war er imstande, sich den meisten Umgebungen anzupassen, selbst tiefen, kalten Gängen und Höhlen. Da er den größten Teil seines Lebens in Höhlen verbracht hatte, konnte er sehr gut mithilfe von Echos Entfernungen und Gestalten identifizieren, ganz gleich, wo er sich befand.
Er nahm die Landschaft in sich auf, als sie über den Weg ritten – die leeren Felder, die fernen Hügel, die kaum wahrnehmbar wirkten bis auf die Tatsache, dass sie ein wenig dunkler waren als die Luft, die sie umgab. All das war ein düsterer Anblick, außer wo die winzigen heißen Flecken auf Ungeziefer und Raubtiere hinwiesen. Ein Rudel von Zarkis erschien auf einem fernen Feld, auf der Jagd nach einem schnellen Beuteltier, vielleicht einem Springer oder Huscher. Sie waren gefährlich für einen einzelnen Mann, aber um elf Reiter würden sie einen weiten Bogen machen. Nachdem die Zarkis so lange von den Dasati getötet worden waren, war ihnen die Furcht vor gepanzerten Reitern in Fleisch und Blut übergegangen. Aber es gab genügend andere nächtliche Raubtiere, auf die man aufpassen musste: Keskash, die zweibeinigen Hinterhalt-Jäger des Waldlandes, die aus einem Versteck stürmten und einen Reiter vom Tier reißen konnten. Ihre Kiefer waren stark genug, um selbst Rüstungen zu zerfetzen. Ihre Haut gab einen Film von Feuchtigkeit ab, der schnell verdampfte und ihre Hitzegestalt verbarg, bis sie ihre Beute beinahe erreicht hatten.
In der Luft kreisten die Zustoßer, ihr winziger Geist vollkommen darauf konzentriert, ihre Überlebenschancen zu berechnen, wenn sie sich auf ihre Beute stürzten, denn nichts auf dieser Welt gab ohne einen Kampf auf. Ihre Hitzebilder waren trüb, denn ihre großen Membranflügel verteilten die Hitze schnell und verbargen sie vor möglicher Entdeckung, sowohl vor jenen, die sie verschlingen wollten, als auch vor den Fliegenden Klauen, diesen machtvollen Kreaturen, die hoch über ihnen schwebten. Die Klauen flogen in der oberen Atmosphäre, manchmal Meilen über der Oberfläche, bis sie die Gase aus ihren Gedärmen von sich gaben, die sie hoch fliegen ließen, und dann rasten sie hinab auf nichtsahnende Ziele am Himmel oder an der Oberfläche. Ihre großen Flügel öffneten sich mit einem donnernden Krachen, wenn sie ihr Zustoßen in plötzliches Schweben verwandelten, und ihre hohlen, spitzen Klauen packten die Beute. Sie schlugen machtvoll mit den Flügeln, wenn sie sich wieder höher in den Himmel bewegten, wo sie die Flüssigkeit aus den Leichen saugten, die sie festhielten. Bevor sie ihre Schwebehöhe erreichten, ließen sie die ausgetrockneten Kadaver fallen, die langsam wieder zur Oberfläche zurücktaumelten. Ihre Klauen waren mächtig genug, um ein Varnin zu packen und es vom Boden zu heben, und sie konnten auch einen Brustharnisch durchdringen. Es geschah selten, war aber nicht vollkommen unbekannt, dass ein Reiter aus dem Sattel gerissen und davongetragen wurde.
Valko genoss die Nacht. Wie die meisten auf diesem Ritt hatte er im Versteck den größten Teil des Tages geschlafen und sich erst nach Sonnenuntergang hervorgewagt, um zu stehlen, was er brauchte. Seine Mutter hatte ihm gesagt, sobald er den Platz zur Rechten seines Vaters gewonnen hätte, würde er das Tageslicht schätzen lernen. Er bezweifelte die Worte seiner Mutter nie, denn sie war eine Frau von machtvollem Intellekt und scharfer Wahrnehmung, aber er fragte sich, ob er sich nach der Dunkelheit der Nacht im grellen Tageslicht wirklich jemals wohlfühlen würde.
Er wunderte sich darüber, dass sie diesen plötzlichen nächtlichen Ritt unternahmen, aber er wusste, dass es besser war, keine Fragen zu stellen. Hirea würde ihnen schon sagen, was sie wissen mussten. Der Weg der Dasati schloss komplizierte Beziehungen ein, und wenn es Zeit für blinden Gehorsam war, trug beinahe jede Frage dazu bei, dass ein junger Krieger getötet wurde.